Lesenswert! Ein adliges Leben mit allem Drum und Dran!? Selbst der Verlag ließ sich nicht lumpen: ‚Güldener’ Einband, ‚silbernes’ Lesebändchen, schokoladenbraune Ispize, entsprechend — wahrscheinlich — blaublütige Umschlagapplikationen, wie Lüster, High Heels, Flacons, Jagdhund, Katze, eine Tasse mit links liegendem Löffel und so weiter und so fort. Den Klappentext ziert in einem barocken Rahmen das Portrait der Autorin Christine Gräfin von Brühl (*1962), die mit provokanter Dreistigkeit den verflossenen Adel restauriert und damit das real existierende Bürgertum ehrabschneidend ins Abseits katapultiert. Ungeniert statuiert sie unzählig reizende Exempel, wie wohltuend sich doch die (vorgeblichen!) Adligen von den Bürgerlichen abheben. Allein schon der Untertitel „Die Kunst, ein adliges Leben zu führen“ fordert heraus und „Noblesse oblige“ — Bourgeoisie auch!
Einen deutschen Adel gibt es gesetzlich seit 1919 nicht mehr. Die Verfassung des Deutschen Reiches besagt in Artikel 109 die Aufhebung des Adels, was auch heute geltendes Recht ist: „Alle Deutschen sind vor dem Gesetz gleich. (...) Adelsbezeichnungen gelten nur als Teil des Namens und dürfen nicht mehr verliehen werden.“ Alle Adelstitel gingen folglich verloren und sind seither nur noch Teil des Nachnamens. Dr. phil. Christine Gräfin von Brühl, die unter anderem Geschichte studierte, weiß wohl um diese Entadelungsmodalitäten und streift sie kurz am Ende des Buches; verinnerlicht hat sie diese nicht, will das auch gar nicht, denn sonst betriebe sie nicht eine altertümliche, arg herausfordernde Ständepolitik... „Das Gegenteil von adlig ist gemeinhin bürgerlich. Die Adligen meiden die Bürgerlichen wie der Teufel das Weihwasser. Stimmt das? Nicht ganz, die Zeiten haben sich ja geändert (doch schon gemerkt?). Adligen stellt sich nicht mehr pausenlos die Frage nach der Ebenbürtigkeit. Oder doch? Eines steht fest. Adlige lieben es nicht, wenn ihre Kinder sich anhaltend (sic!) mit Bürgerlichen liieren.“ Lehrjahre? Und das in einer Zeit, wo in anderen Ländern echte Prinzen bürgerliche Frauen zum Altar führen.
Man soll, bitte schön, in eigenen Kreisen heiraten, doch nicht so sehr in nahfamiliären — verständlich — aus guten Gründen, denn die Gesetze des bürgerlichen Mendels greifen auch in diesen Kreisen, was manchmal trotz augenscheinlicher Folgen nicht beachtet wurde. Adlige sollen zahlreiche Kinder zeugen — o ha... Aber man muss der Autorin zugutehalten, dass sie auch in ihren erlauchten Kreisen konsequent hierarchisch denkt — komme, was da wolle, ein kleines Von, ein Vönchen wird indes nicht gerne gesehen, geschweige denn geheiratet. O nein — diese Mesalliancen! Getraut wird nach dem „Gotha“, einem Nachschlagwerk des Adels, denn bei den „Adligen heißt es, eine Ehe mit einem Bürgerlichen sei unaufhaltsam dem Untergang geweiht.“ Es ist dann doch besser, gleich nach dem Adels-Katalog eine Wahl zu treffen. Die Chancen stehen gut, denn nach von Brühl machen die meisten Adligen Abitur, absolvieren ein Hochschulstudium, wo sie allerdings „dauerhaft in die Fänge eines Bürgerlichen geraten könnten“. Die Frauen studieren nicht, jedenfalls nicht allzu viele. Sind wir bürgerlichen Frauen, wir misfits intelligenter? Irgendeinen Vorteil muss man uns „Ungeborenen“ immerhin zugestehen.
Bürgerlich ist nach der ‚Gräfin’ sozusagen spießig, und den Spießer soll man meiden. Der Autorin folgend, bin ich bürgerlich-spießig, wenn ich den Löffel in der Tasse lasse (bei uns Ostfriesen ist das aber Tradition, wenn man keinen Tee mehr möchte); spießig ist es schon, wenn man die Schuhe beim Betreten eines Hauses ausziehen soll (vom Schonen der Teppiche in nicht so ganz finanzkräftigen Kreisen scheint ‚I. H.’ noch nichts gehört zu haben). Adlige tragen ihre zunfteigenen Shetlandpullover, auch wenn sie nicht ganz heile sind, stilvoll um die Schultern. Seitdem ich das weiß, schlage ich meinen Segelrolli um die Seite — nur nicht falsch auffallen! „Blaublütige finden farbige Damenunterwäsche so schrecklich, dass es sie schüttelt.“ Und — die ‚Adliginnen’ scheinen sonderliche Bäuche zu haben, denn, wie ‚schenant’, beim Bikini, so von Brühl, „müsste man den Bauch entblößen“. Immerhin geht die Herrschaft schwimmen, aber „man begibt sich nicht mit Krethi und Plethi ins öffentliche Bad.“ Aufschlußreich: Bürgerlich ist auch der Führerschein, Adlige haben einen Jagdschein (sic!).
Die ‚Blaublütige’ konstatiert weiter, dass nicht jeder Mensch spießig sei, wohl aber dessen Zuhause, gesetzt den Fall, eine solche Familie lauscht in einer weihnachtlich besinnlichen Runde dem Weihnachtsoratorium von Bach (seines Zeichens Bürger, der gegenüber der Herrschaft nicht kuschte und einsaß), erfreut sich dabei an einem klingenden Weihnachtsbaum-Engel und einer Weihnachtspyramide. Wie hoffähig ist doch aber gerade der Böllsche ‚Friede’ rufende Engel! Hört der vorgebliche Adel nur Adelsmusik? Darf es nur pur durchlauchtigst sein? Friedrich der Große? Oder königlich? King of Pop? Und dann die Problematik (fast drei Seiten lang) eines adligen Accessoires, der feudalen Korsettstange, die einen stechenden Schmerz verursachen kann! Indes zu reparieren mit inzwischen hoffähigen Hausmitteln, als da sind Tesafilm, Heftpflaster, Isolierband oder Papiertaschentücher (mit oder ohne Spitze?). Komisch — meine Mutter, aus nicht herrschaftlichem Hause, trug auch Korsett, allerdings mit Stangen, die fürs Vaterland hielten.
Man hätte auch gerne einen Kaiser wieder. Doch wehe — dann müssten sich die adligen Damen mit ihren À-jour-Arbeiten wieder in die Kemenaten ihrer Schlösser oder Arbeiterschließfächer der Plattenbauten zurückziehen; politische Freiheiten gäbe es auch für sie nicht, aber eine jede ist nicht Freiin Malwida von Meysenburg oder Friedensnobelpreisträgerin Freifrau Bertha von Suttner! Und Frau Dr. Christine Gräfin von Brühl lässt uns nicht vergessen, was der Adel uns Gutes getan. Weiß sie nicht um die Fronarbeit leistenden Untertanen? Als Historikerin? Natürlich! Dieses dunkle Kapitel ließ sie mir nichts — dir nichts unter den Tisch fallen. Noch heute beanspruchen nicht wenige ehemals herrschaftliche Familien nicht nur einen Obolus aus der Steuerlast ihrer jetzigen Mitbürger, damit der Staat ihre angeschlagenen Sitze stütze oder kaufe.
Frau Gräfin von Brühl lebt, so der Klappentext, unter der Woche mit ihrem Mann und zwei Kindern in einer Wohnung in Berlin, die Wochenenden und Ferien verbringt sie auf diversen Schlössern und Landsitzen ihrer zahlreichen Verwandten in Europa. Viele Nachfahren des ehemaligen Adels wohnen ihr Leben lang in Eigenheimen, Wohnblöcken, andere auf Herrensitzen, Schlössern und Burgen mit mehr oder minder einladenden Anlagen. Zugegeben — die Brühlsche Terrasse lohnt immer einen Besuch. In „Noblesse oblige“ scheint die Zeit stehengeblieben zu sein, denn darin lebt man zumeist auf Schlössern, aber bitte mit Computer, Handy und Auto, die allerdings von Bürgerlichen erfunden wurden, die überdies nicht alle Abitur hatten, aber Köpfchen.
Ich kann mir beim besten Willen nicht vorstellen, dass jeder Nachfahre früherer Adelshäuser mit diesem an Apartheid erinnernden Nobilitätsbuch übereinstimmt, ja, ich glaube, dass der große Kreis dieses Genres das klägliche Erzeugnis ihrer Standesgenossin sogar missbilligt. Lesen Sie selbst! Fast 253 ausgeschamte Seiten!
Nicht zuletzt möchte ich betonen und das besonders gern: Ein Adliger liegt mir seit Kinderzeiten sehr am Herzen — Herr von Ribbeck auf Ribbeck im Havelland — wie schön, dass es den Bürger Theodor Fontane gab!
Von Dr. Dr. Heide Braukmüller
Literaturangabe:
CHRISTINE GRÄFIN VON BRÜHL: Noblesse oblige. Die Kunst, ein adliges Leben zu führen. Eichborn Verlag, Frankfurt am Main 2009, 253 S., 17,95 €.
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