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Der Jahrhundertphotograph

Henri Cartier-Bresson zwischen Journalismus und Kunst

© Die Berliner Literaturkritik, 18.10.10

Von Matthias Reichelt

Ein Paar in der Möbelabteilung in den Galleries Lafayette in Paris vor einer modernen Couch. Wir schreiben das Jahr 1968. Er hat seinen linken Arm leger, aber besitzanzeigend über ihre Schulter gelegt und deutet mit seinem anderen Arm und gestreckter Hand auf die Couch, während sie mit gesenktem Blick auf eine andere Stelle unmittelbar vor ihr zeigt. Innigkeit und Disparität in einer ganz kleinen Szene sind hier in einem ganz kurzen und intensiven Augenblick festgehalten. Das Paar ruht in seiner Welt und dennoch ist in dem Bild bereits etwas von Aufbruch zu spüren. Zu dieser Zeit gehen in vielen Ländern Studenten gegen verkrustete Gesellschaftsformen auf die Straße. Im Zuge dessen entsteht die neue Frauenbewegung, die das tradierte Verhältnis der Geschlechter in Frage stellt. Die Autorität des Mannes erhält einen ersten Knacks. In jener Szene lässt sich die zukünftige Entwicklung einer ganzen Geschichte erahnen. Dieses Foto gehört bestimmt nicht zu den ganz bedeutenden Werken von Henri Cartier-Bresson, aber es macht sein kalkuliertes oder auch nur intuitives Gespür für den richtigen Moment, den magischen Bruchteil einer Sekunde, deutlich. In solchen Bildern kann sich eine ganze Geschichte verdichten und macht das Bild zu einem Fenster, durch das wir viel mehr erblicken als „nur“ die mittels chemischer Prozesse sichtbar gewordene Szene.

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Henri Cartier-Bresson gilt als einer der bedeutendsten Fotojournalisten des 20. Jahrhunderts, der 1903 geboren und vor sechs Jahren gestorben ist. Von ihm kaufte das Museum of Modern Art in New York sehr früh Bilder an und richtete ihm 1947 die erste Ausstellung aus. Zufälligerweise wurde im selben Jahr, einer Legende nach sogar im Restaurant des MoMA, der Beschluss über die Gründung der heute ältesten Fotoagentur Magnum gefasst. Auch wenn Cartier-Bresson gar nicht dabei war, so haben Robert Capa, George Rodger und David "Chim" Seymour Cartier-Bresson einfach mit dazugezählt. Ein hauptsächliches Ziel war eine zentrale Vermarktung der Bilder, ohne das Copyright aus der Hand zu geben und so zumindest in gewissem Maße die Kontrolle über die Bilder zu behalten. Ziel war nicht nur, Bilder zu liefern, sondern möglichst geschlossene Bildreportagen, die auch den sozialen und gesellschaftlichen Kontext in begleitenden Texten berücksichtigten.

Cartier-Bresson galt als einfühlsamer Beobachter, der sich mit frühen Fotoreportagen aus Indien und China einen Namen machte. Nach der Ermordung Ghandis hielt Cartier-Bresson die Trauer und die politische Spannung zwischen Hindus und Moslem fest. Die ebenfalls anwesende amerikanische Kollegin Margaret Bourke-White von Life war so unsensibel, die Trauer um den aufgebarten Leichnam mit Blitzlicht zu stören und wurde des Ortes verwiesen. Cartier-Bresson, der ohne Kunstlicht fotografiert, durfte bleiben und so erschienen seine Bilder zum ersten Mal in Life in der Reportage, die eigentlich von Bourke-Whites Fotos begleitet werden sollten. Bis dahin hatte Cartier-Bresson vor allem für Harper’s Bazaar fotografiert und fiel nun auch anderen Zeitschriften und Magazinen auf.

Cartier-Bresson zeichnete sich durch eine klare politische Haltung aus, was ihn auch mit den anderen Magnum-Mitgliedern verband. Wie auch Robert Capa, die wohl wichtigste Person bei der Gründung von Magnum, hatten er sich klar und deutlich gegen den Faschismus positioniert und für die Spanische Republik engagiert. Dort drehte Cartier-Bresson drei Dokumentarfilme und berichtete als Fotograf für die französische, kommunistische Zeitung „Ce Soir“ vom Kampf der Republik gegen Franco. Später, unter der deutschen Besatzung, schloss sich Cartier-Bresson der Résistance an.

Im Lauf seiner Karriere hat Cartier-Bresson große und eindrucksvolle Reportagen und Bildikonen geschaffen. Viele dieser Ikonen sind in dem anlässlich der auf vier Stationen (New York, Chicago, San Francisco, Atlanta) gezeigten Retrospektive vom MoMA bei Schirmer/Mosel herausgegebenen Katalog zu sehen.

Literaturangabe:

CARTIER-BRESSON, HENRI: Sein 20. Jahrhundert. Verlag Schirmer/Mosel, München 2010. 300 Fotografien. 376 S., 58 €.

Weblink:

Verlag Schirmer/Mosel

 


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