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Wie viel Sozialismus ist möglich?

Einblicke in Länder des „real existierenden Sozialismus“

© Die Berliner Literaturkritik, 07.02.11

Hans-Joachim Veen/Ulrich Mählert/Peter März (Hrsg.): Wechselwirkung Ost-West. Dissidenz, Opposition und Zivilgesellschaft 1975-1989. (Schriftenreihe der Stiftung Ettersberg Bd. 12) Böhlau Verlag, Köln/Weimar/Wien 2007. 213 S., 24,90 €.

Von Volker Strebel

Mit der Unterzeichnung der Schlussakte von Helsinki endete am 1. August 1975 der komplizierte Vorgang einer „Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa“(KSZE). Die Veranstalter des Symposiums waren der Meinung, dass osteuropäische Erscheinungen wie „Dissidenz, Opposition und Zivilgesellschaft“ infolge der einsetzenden Entspannungsphase in einer Art Wechselwirkung aufgrund dieser neuen politischen Rahmenbedingungen einen umfangreicheren Raum zur Entfaltung bekommen hatten.

Es ist gerade diese gesellschaftspolitische Interdependenz, der sich Bernd Faulenbach in seinem einleitenden Beitrag „Europa im Zeichen der Entspannungspolitik“ widmet. Darauf aufbauend thematisiert Ehrhart Neubert „Die Teilung Europas in den Debatten der ostmitteleuropäischen Dissidenz“. Seine Perspektive ist dabei stark von seinen Erfahrungen als evangelischer Pfarrer in der DDR mit Kontakten zu kirchlich orientierten Oppositionsgruppen geprägt. Dort herrschte die Erkenntnis: „Der Westen verzichtet auf die Mitte!“

In seinem geschichtlichen Abriss der vierzigjährigen Teilung interpretiert Neubert diesen „Verzicht“ des Westens als ein Zugeständnis an die Hegemonialmacht der Sowjetunion, die sich verheerend für die Entwicklung des gesamten mittelosteuropäischen Raumes ausgewirkt hat. Zugleich aber wurde im Westen die in Jalta im Februar 1945 beschlossene europäische Teilung Zug um Zug verinnerlicht: „Die Not des erzwungenen Verzichts auf Mittel- und Osteuropa wurde zur kulturellen Tugend. Der Westen war sich selbst genug geworden.“ Der auf die Länder Mittel- und Osteuropas bezogenen politischen Ignoranz des Westens steht „die intellektuelle Formierung der Opposition seit den 1970er Jahren“ in den Dissidenten-Zirkeln von Budapest (György Dalos), Prag (Richard Swartz) oder Warschau (Kazimierz Wóycicki) gegenüber.

Bei aller Verschiedenheit der politischen Vorstellungen in den mitteleuropäischen Ländern einte die Bürgerbewegungen der Wunsch nach den grundlegenden bürgerlichen Freiheiten wie Meinungs- und Pressefreiheit oder auch, vor allem in kritischen Gruppierungen in der DDR, die Reisefreiheit. Die Besonderheit der intellektuellen DDR-Opposition skizziert Eckhard Jesse eindrucksvoll in „fünf (Denk-)Fallen“, welchen diese Kräfte ausgesetzt waren und denen sie zu Lasten einer breiteren Wirkung zum Opfer gefallen waren.

Ein besonderes Verdienst der vorliegenden Zusammenschau liegt darin, dem Verhalten der westlichen Linken in Hinsicht auf die Entwicklung von Bürgerrechtsbewegungen und Dissidenten nachzugehen. Kritisch fällt hierbei Gerd Koenens Beitrag „Die APO, ihre Erben und die DDR“ aus. Neben der Verklärung des „realen Sozialismus“ durch die dogmatische Linke findet sich ein verschämtes Verdrängen der diktatorischen Wirklichkeit, da das zarte Pflänzchen der Entspannungspolitik nicht gestört werden sollte.

Eine aktive Solidarisierung mit der kritischen Opposition in den sozialistischen Ländern fand lediglich in marginalen Aktionsgruppen wie etwa dem „Sozialistischen Osteuropakomitee“ statt. Aufschlüsse darüber ermöglicht in drei Skizzen Stefan Troebst in seiner Untersuchung „Die ostmitteleuropäische Oppositionsbewegungen in der westlichen Osteuropaforschung 1975-1989“. Ohne Zweifel hat Ehrhart Neubert mit seiner These von der kritiklosen Verinnerlichung der Teilung Europas im Westen einen neuralgischen Punkt in der Geschichte des Ost-West-Gegensatzes herausgearbeitet, der bis zum heutigen Tage, also Jahrzehnte über den Fall des Eisernen Vorhanges hinaus, von gesellschaftspolitischer Relevanz ist.

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Wer sich in den Jahrzehnten vor dem Mauerfall nicht mit den Verhältnissen des „real existierenden Sozialismus“ beschäftigt hat, kann sich auch in der heutigen Zeit kein ungeschminktes Bild von diesen Vorgängen machen. Hier schließen politische Mythen an und der Rattenfänger von Hameln wird zum Pädagogen erwählt. Eine leichte Beute für jene politische Linke, die einer kritischen Analyse des „realen Sozialismus“ dessen nostalgische Verklärung vorziehen. Eine abschließende Podiumsdiskussion unter dem Thema „Das Erbe der Dissidenz für das vereinte Europa“ mahnt vor allem eine grenzüberschreitende Erinnerung an. Zutreffend betont Kazimierz Wóycicki: „Ich habe von gemeinsamer Erinnerung gesprochen, nicht von einheitlicher.“


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