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Gauck: Wir sind die Anständigen

Keine Zeit für Buchlesungen

© Die Berliner Literaturkritik, 30.06.10

Von Jutta Schütz

Die Sowjetarmee beschlagnahmte 1945 das Haus von Großmutter Antonie an der Ostsee. Erst nach dem Fall der Mauer bekam es die Familie heruntergewirtschaftet zurück. Das Haus am Deich in Wustrow sei für ihn über Jahre ein Zeichen der Willkür und des DDR- Unrechts gewesen, erinnert sich Joachim Gauck in seiner Biografie „Winter im Sommer - Frühling im Herbst“ an seine ostdeutsche Kindheit. Seit Monaten stellt der jetzt 70-Jährige sein im Siedler Verlag erschienenes Buch bei Lesungen vor. Doch nun ist er Kandidat von Rot-Grün für das Amt des Bundespräsidenten und muss seine Leser erstmal wegen der Politik vertrösten.

Dabei sind die Botschaften des früheren DDR-Oppositionellen, Pfarrers und ersten Leiters der Stasiunterlagen-Behörde im Buch aktuell. Er habe zwar zur Kenntnis nehmen müssen, dass die erkämpfte Freiheit 20 Jahre nach der Wiedervereinigung im Alltag einen Teil ihres Glanzes verloren habe, schreibt Gauck. „Mag sein, dass dann allgemeiner Verdruss das Land noch mehr einhüllt“, doch für ihn werde die Freiheit immer leuchten, schreibt der frühere Kirchenmann mit Blick auf kommende Jahre.

An manchen Stellen wird es pathetisch, Gauck spricht auch in der dritten Person von sich. Doch die prallen Erfahrungen eines Lebens, in dem der Fall der Mauer 1989 die entscheidende Wende markiert, sind beeindruckend. Beim heranwachsenden Joachim, der im Januar 1940 geboren wurde, hat sich eingebrannt, dass der Vater nach Kriegsende plötzlich verschwand und jahrelang wegblieb. Erst später erfuhr die Familie, dass er zur Zwangsarbeit verurteilt und in ein Gulag nach Sibirien deportiert worden war. Jede Form von Fraternisierung mit dem System sei dadurch ausgeschlossen gewesen, schreibt Gauck, der weder bei den Pionieren noch in der Jugendorganisation FDJ (Freie Deutsche Jugend) war.

Er habe damals in dem moralisch komfortablen Bewusstsein gelebt: Wir sind die Anständigen, so Gauck. Das Werben des DDR-Regimes für die Akzeptanz seiner moralischen und politischen Ziele habe er intuitiv abgewehrt, denn „über uns hatte es Leid und Verrat gebracht“. So war sein Weg folgerichtig. Er studierte Theologie und baute in Rostock in einem Neubaugebiet eine evangelische Kirchengemeinde auf, die junge Leute anzog. Werbeversuche der Stasi wehrten sie gemeinsam ab. Der Pfarrer ging einfach zu dem ersten Treffen mit - die beste Methode zur Dekonspiration.

Er habe sich ausgekannt im Osten und sei auch deshalb nach dem Mauerbau 1961 geblieben, schreibt Gauck. «Diese Landschaft politischer Unsicherheit war für mich berechenbar.» Und doch musste er persönlich bittere Momente hinnehmen: Drei seiner vier Kinder reisten in den Westen aus, ebenso Bekannte und Freunde. Was würde denn sein, wenn die Aufrechten immer weiter geschwächt würden, fragte er sich. Er sei traurig gewesen, dass seine Kinder den Aufbruch, die Proteste, den Zusammenhalt in der Kirche, den wachsenden Mut der Menschen vor dem Mauerfall nur aus der Ferne erleben konnten.

Gauck beschreibt auch, wie er Kraft aus seinem Glauben schöpfte. „Als ich die Angst verlor, vom Zweifel verschlungen zu werden, wuchs die Ermächtigung.“ Kirche sei in der DDR die einzige eigenständige Institution gewesen, auf die Staat und SED-Partei keinen direkten Zugriff gehabt hätten, und der einzige Ort, an dem offene Gespräche möglich gewesen seien. Erst nach der Wende habe sich herausgestellt, dass auch Kirchenmitarbeiter als Stasi-IM (Inoffizielle Mitarbeiter) Menschen in ihrer Nähe verraten hatten. Er selbst sei von der Stasi unter dem operativen Vorgang „Larve“ beobachtet worden, so Gauck.

Bei der Bundespräsidentenwahl am 30. Juni tritt Gauck nun gegen den ehemaligen, niedersächsischen Ministerpräsidenten Christian Wulff als Kandidat von Union und FDP an. „Gauck bringt ein Leben mit in seine Kandidatur“, Wulff dagegen „bringt eine politische Laufbahn mit“, hatte SPD-Chef Sigmar Gabriel bei der Vorstellung des Kandidaten gesagt.

Gaucks Erinnerungen sind ein Geschichtsbuch, in dem aber nicht alle Passagen ganz dicht und packend geschrieben sind. Doch es gibt viel Interessantes. So rückt die Entstehung der Stasiunterlagen- Behörde vor 20 Jahren noch einmal in den Blick, werden die Kontroversen von DDR-Oppositionellen über den richtigen Weg zur deutschen Einheit lebendig.

Leiter der Behörde sei er eher durch Zufall geworden, legt der Ostdeutsche dar, der zehn Jahre die Behörde leitete. Weil er nicht so berühmt wie die anderen DDR-Oppositionellen gewesen sei, landete er in der ersten freien DDR-Volkskammer für Bündnis 90 im Innenausschuss, wo die Hinterlassenschaft der DDR-Staatssicherheit erörtert wurde. Er habe nicht mal geahnt, welche Erblast der Diktatur der Demokratiebewegung in die Hände gefallen sei, sagt der parteilose Gauck noch heute. Gleichzeitig weist er Vorwürfe der früheren PDS zurück. Er sei kein Großinquisitor gewesen, sagt Gauck, der sich nach dem Mauerfall von seiner Frau trennte und später eine neue Lebenspartnerin aus dem Westen fand.

Im Siedler Verlag herrscht derzeit große Freude. Mit der Gauck- Kandidatur sei die Nachfrage nach der Biografie noch einmal nach oben gegangen. Rund 20.000 Exemplare seien allein im Juni über die Ladentische gegangen, sagt Sprecher Markus Desaga. Eine siebte Auflage wurde gedruckt. Was mit den bereits gebuchten Lesungen nach der Wahl am 30. Juni wird? Desaga: „Keiner weiß, ob Joachim Gauck dann noch Zeit hat.“

Literaturangabe:

GAUCK, JOACHIM : Winter im Sommer - Frühling im Herbst – Erinnerungen. Siedler Verlag, München 2009. 344 S., 22,95 €.

Weblink:

Siedler Verlag


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