Von Gisela Ostwald
Wer Joyce Carol Oates gelesen hat, weiß, wie packend ihre Geschichten sind, wie mitreißend ihre Sprache und wie faszinierend die Charaktere. Ihr jüngster Roman heißt „Geheimnisse“. Ihn hat die US-Professorin, die Literatur an der Elite-Universität Princeton lehrt und nebenbei „im blubbernden Schreibrausch“ Bücher verfasst, ihrer Großmutter gewidmet, der „Tochter des Totengräbers“.
Oates stellt eine deutsche Familie vor, die in den 1930er Jahren vor den Nazis flieht, im ländlichen New York, nicht weit von den Niagara Fällen entfernt, aber ebenfalls nur Verachtung und Hass findet. Isoliert, gedemütigt und in bitterer Armut versuchen sich der ehemalige Mathematiklehrer Jacob Schwart aus München, seine Frau Anna und die drei Kinder am Rande eines kleinen Friedhofs durchs Leben zu schlagen.
Vater Jacob hebt Gräber aus und gibt sich in seiner Verzweiflung dem Alkohol hin. Genugtuung findet er nur, wenn er nachts über das Radio dem Kriegsgeschehen in der alten Heimat folgt. Seiner Frau Anna rauben die Umstände den Verstand. Sie spricht nur noch mit sich selbst und ist von dem Gedanken besessen, dass das Trinkwasser der Familie aus den Gräbern neben dem Haus sickert und allen den Tod bringt.
Am Ende aber ist es Jacob Schwart, der seine Frau umbringt und sich selbst einen Kopfschuss verpasst. Rebecca, die 13-jährige Tochter, entgeht der mörderischen Rage des Vaters nur um ein Haar, wird aber das Bild nicht mehr los: „Dieses Gesicht, das wie eine gekochte, geplatzte Tomate war. Sie hatte gesehen, wie dieses Gesicht zu Blut, Knorpel und Hirnmasse auseinanderflog. Hatte sich dieses Gesicht von den bloßen Oberarmen gewischt! Es sich aus ihrem Haar geklaubt.“
Keine Frage: Die zerbrechlich wirkende Joyce Carol Oates hat ein Faible für Gewalt und Blutvergießen. Schon ihre erste Arbeit, die Kurzgeschichte „Where Are You Going? Where Have You Been“ (1966), handelte von einem Killer in der Stadt Tucson nahe der mexikanischen Grenze. Manche Kritiker glauben, dass es diese Vorliebe ist, die Oates den Literaturnobelpreis vorenthält, für den sie Jahr für Jahr wieder ins Rennen geht.
In „Geheimnisse“ wird Rebecca von Gewalt verfolgt. Eine Lehrerin nimmt sie nach dem Tod der Eltern auf. Aber mit 17 verliebt sich Rebecca in einen älteren Mann, reißt aus mit dem verführerischen („meine kleine Zigeunerin, meine Jüdin“), aber kriminellen Niles Tignor, der sie und den gemeinsamen Sohn immer wieder verlässt, eines Tages dann fast zu Tode prügelt. Rebecca flieht, immer mit den warnenden Worten des Vaters im Ohr: „Im Tierreich werden die Schwachen schnell ausgesondert. Und darum darfst du dir deine Schwäche nicht anmerken lassen, Rebecca.“
Die Begegnung mit einem Fremden bringt sie auf die Idee, die Identität einer anderen anzunehmen. Aus der herben, scheuen und schwerarbeitenden Fabrikarbeiterin Rebecca Schwart wird Hazel Jones, eine elegante junge Frau mit weißen Handschuhen und stetem Lächeln auf dem Gesicht. Erst Jahrzehnte später erfährt sie, wer diese Hazel Jones eigentlich war und dass nur ihr Instinkt sie, Rebecca, vor dem Schicksal der Namensgeberin bewahrt hatte.
„Geheimnisse“ ist ebenso düster und beklemmend wie inspirierend. Die Schilderungen der hoffnungslosen Situation des Totengräbers und seiner psychisch und körperlich kranken Frau gehen unter die Haut. Hier spricht Oates, die selbst unter einfachsten Bedingungen aufwuchs, kraftvoll aus eigener Erfahrung. Weniger überzeugend ist das „gute“ Leben, das sich Rebecca Schwart alias Hazel Jones mit ihrem Überlebenswillen in der neuen Welt erkämpft.
Literaturangaben:
OATES, JOYCE CAROL: Geheimnisse. Aus dem Amerikanischen übersetzt von Silvia Morawetz. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2010. 671 S., 24,95 €.
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