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Jugend unter Hammer und Sichel

Ein deutsch-deutscher Lebenslauf

Von: MONIKA THEES - © Die Berliner Literaturkritik, 07.01.12

 

Diese Rezension von Monika Thees erschien erstmals am 14. Oktober 2002 in diesem Literaturmagazin.

Literaturangaben:
KORDON, KLAUS: Krokodil im Nacken. Roman. Beltz & Gelberg, Basel, Berlin 2002. 796 S., € 19,90.

Klaus Kordon ist mit seinem neuesten Roman „Krokodil im Nacken“ ein beeindruckendes Lebenswerk gelungen. Der vielfach preisgekrönte Jugendbuchautor erzählt plastisch und mit großer Authentizität eine autobiografisch gefärbte Lebensgeschichte. Der junge Manfred Lenz wird wegen versuchter Republikflucht zwei Jahre in DDR-Haftanstalten weggesperrt, bevor er 1973 im Rahmen von Häftlingsfreikäufen in die Bundesrepublik gelangen kann. Das „Krokodil im Nacken“ ist ein spannender Lebensbericht und ein farbiges, authentisches Zeitdokument deutsch-deutscher Geschichte.

September 1972, kurz nach Beginn der Olympischen Sommerspiele in München. Ohne Wissen über den genauen Aufenthaltsort findet sich der 28-jährige Manfred (Manne) Lenz nach einer missglückten Flucht über Bulgarien als Häftling „Hundertzwo-Zwo“ in einer Stasi-Einzelzelle. Getrennt von seiner Frau Hannah und den gemeinsamen Kindern Silly und Micha erwarten Manne Lenz zunächst mehrere Monate Einzelhaft in der Untersuchungshaftanstalt der Stasi, Berlin-Hohenschönhausen. Sich in die Länge ziehende, schleppende Verhöre durch einen Ermittlungsoffizier des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS), Zermürbung, bewusste Schikane und langwierige Verhöre werden folgen.

Parallel zu den Vernehmungen durch einen Leutnant der „VEB Schwert-und-Schild-der-Partei“, dem bohrenden tschekistischen „Wer ist wer?“, rekapituliert Manfred Lenz - angeklagt wegen Grenzverletzung, illegaler Gruppenbildung und Spionage -  in den Zellennächten sein bisheriges Leben in Kriegsdeutschland, sowjetischer Zone und sich formierender sozialistischer Republik.

1943 als Kriegskind geboren, wächst Manne Lenz als Halbwaise mit zwei älteren Halbbrüdern in Berlin Prenzlauer Berg auf. Angst, Krieg und Bombennächte gehören zu diesen frühen Kindertagen. Doch bald schafft sich der sensible, zum Träumerischen neigende Manne kleine Fluchten aus der kargen Nachkriegsrealität. In Mutters Abstellkammer erspinnt er sein Traumland „Amerika“, später nähren Westernfilme, Comic-Hefte und westliche Schlagermusik sowie zufällig erstöberte („Welt“-) Literatur seine lebhafte Fantasie.

Mutters Kneipe

Manne Lenz lernt dabei früh, genau zu beobachten: das Stammpublikum und die Gäste in der Kneipe seiner Mutter, dem „Ersten Ehestandsschoppen“ neben dem Bezirksamt Prenzlauer Berg, die Straßen und Geschäfte nicht nur seines Stadtbezirks, auch das Kommen und Gehen von Menschen, Waren und Informationen über die Sektorengrenzen hinweg. Das Erleben so unterschiedlicher Realitäten schärfen Mannes feine Beobachtungsgabe, sie wird ihm später eine Distanz erlauben und resistent machen gegenüber allen Erziehungsversuchen des sich humanistisch wähnenden Staatsapparates.

Nach dem Tod der Mutter durchläuft Manne Lenz verschiedene Stationen der sozialistischen Heimerziehung, vom Vorzeigekinderheim Königsheide bis zum Jugendheim auf der „Insel der Jugend“. Nach seiner Volljährigkeit wird er zunächst Transport- und Lagerarbeiter, heiratet bald danach die mit ihrer Familie aus dem Westen in die DDR übergesiedelte Hannah. Er macht Abitur an der Volkshochschule und beginnt ein Fernstudium in Leipzig. Lenz möchte zum Theater, er spricht in Babelsberg vor , wird jedoch zur NVA eingezogen und verlässt sie nach zwei Jahren als mehrfach ausgezeichneter Planzeichner.

Für die Schublade schreibt er Gedichte und Erzählungen und reibt sich im Alltag am real existierenden Sozialismus. Lenz wechselt in den Handel mit Medizingeräten, dann ins Exportgeschäft und darf sogar in dienstlichem Auftrag nach Indonesien und Indien reisen. Es könnte eine sozialistische Bilderbuch-Karriere werden, wenn Manfred Lenz nicht dieses „Krokodil im Nacken“ säße, sein besseres Ich, sein Gewissen, das ihn nicht zur Ruhe kommen lässt.

Marsmann und Panzerplatte

Gekonnt verknüpft Klaus Kordon die zwei durchgängigen Erzählstränge seines Romans: Untersuchungshaft, Prozess und Verbüßen der Haftzeit in diversen DDR-Knästen laufen parallel zu Mannes eigener Rückschau auf Kindheit und Jugend. Die Figuren, Motive und Ereignisse ergänzen, überschneiden und spiegeln sich dabei geschickt auf unterschiedlichen Ebenen. Klaus Kordon schafft ein literarisch dichtes Gewebe aus Spannung und Vielfalt: Er erzählt Episoden auf den Punkt zu, schafft Pointen, überraschende Wendungen und arbeitet dramaturgische Gegenpositionen zu Lenz aus, um dessen Konflikte und innere Abgrenzungen zu verdeutlichen.

Klaus Kordon kennzeichnet Menschen und ihre Milieus treffend und subtil durch ihre jeweils eigene Sprache. Er enttarnt die ideologischen Phrasen des übermächtigen Staatsapparates und dessen Vertreter durch selbstentlarvenden Sprachwitz oder Ironie auf Seiten der Schwächeren. Häftlinge erzählen sich Film- und Romanhandlungen zur Immunisierung gegen den zermürbenden Haftalltag und die Schikanen des Strafvollzuges. Verblüffend und mit Witz enttarnend sind die Wortschöpfungen Mannes, seine sprachliche Originalität sowie seine fast schrägen Vergleiche der obrigkeitsstaatlichen Inszenierungen mit Filmfiguren und -szenen. Gegen die Anonymität und Inhumanität der Haftbedingungen setzt der fantasiemächtige Lenz Spitznamen, die den Feind benennen und so fassbar machen: Marsmann, Knurrhahn, Berija und Panzerplatte.

Klaus Kordon lässt seinen Helden Lenz das geliebte Berlin, die durch den Krieg fast unzerstört gebliebenen Straßen des Prenzlauer Bergs durchstreifen, immer wieder führt es ihn zurück zum Ufer der Spree, zum (Schicksals-) Ostbahnhof und zu den Prenzlauer Kneipen, wo Lenz eine andere, „tiefere“ Wahrheit jenseits der offiziellen Verlautbarungen zu hören bekommt. Die biografische Bindung des Autors an seine Heimatstadt Berlin lässt ihn liebevolle Miniaturen über bekannte Orte und Straßen schreiben.

Klaus Kordon begleitet seinen Helden Lenz beim Erwachsenwerden in der ostdeutschen Republik und beleuchtet ausgewählte Stationen deutsch-deutscher Geschichte: der Volksaufstand am 17. Juni 1953, der Mauerbau ab 13. August 1961, die Niederschlagung des Prager Frühlings 1968. Kurz danach – Lenz ist jetzt 25 Jahre alt und hat am Vortag als Abteilungsleiter eine „offizielle“ Verteidigungsrede vorlesen müssen – meldet sich nachts der beste Freund Mannes, sein besseres Ich: das Krokodil im Nacken.   

Vogelflug

Im Laufe des über 700 Seiten umfassenden Romans werden nach und nach sich anbahndende Entwicklungen und Perspektiven deutlicher: Die Anklagepunkte der Justiz konkretisieren sich, ein erstes Treffen mit Hannah wird für den Untersuchungshäftling möglich. Lenz kommt in eine Dreimannzelle und erfährt über einen mitinhaftierten Journalisten von den sich ausweitenden deutsch-deutschen Häftlingsverkäufen über das Anwaltsbüro Dr. Vogel. Die Selbsterkundung seines bisherigen Lebens bestätigt Manne einmal mehr sein Unvermögen, sich in der Deutschen Demokratischen Republik heimisch zu fühlen, trotz aller Sozialisationsversuche des ostdeutschen Staates. Der Ausreiseantrag und ein „Vogelflug“ in die Bundesrepublik werden für Manfred Lenz immer stärker zum alleinigen Hoffnungsschimmer.

Klaus Kordons (Jugend-) Roman besticht durch Vielschichtigkeit, Authentizität und erzählerisches Können. Der Autor entfaltet ein lebendiges Panorama jüngster deutsch-deutscher Geschichte, detailreich, unterhaltsam und informativ durch kenntnisreiche Innenansichten aus Stasi-Knästen, sozialistischen Vorzeige-Erziehungsheimen und volkseigenen Produktions- und Handelsunternehmen. Nicht nur für Jugendliche lesbar, sondern mit Gewinn für jeden, der Einblick nehmen möchte in Feinstrukturen der ehemaligen DDR. Das „Krodkodil im Nacken“ ist aber auch und vor allen Dingen ein großer Entwicklungsroman, die (Jugend-) Geschichte des Manfred Lenz handelt von einem schmerzhaften, aber letztlich befreienden Prozess des Erwachsen-, des Mündigwerdens.

Monika Thees ist Redakteurin dieses Literatur-Magazins


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