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Juvenile Phantasien

Das stille Haus – Spurensuche des Literaturnobelpreisträgers Orhan Pamuk

© Die Berliner Literaturkritik, 11.03.10

Von Leonhard Reul

Orhan Pamuk hat 1980-1983 einen vielschichtigen Familienroman verfasst. Dem deutschsprachigen Lesepublikum liegt dieses Werk des Nobelpreisträgers nun erstmals übersetzt vor. Die Bedenken, es könne sich lediglich um ein schwächeres Erstlingswerk handeln, das der Hanser-Verlag bis zum nächsten „wirklich neuen“ Pamuk einschob, sind unbegründet. Freunde der Pamukschen Erzählweise kommen in diesem Band auf ihre Kosten und können sich auf eine detektivische Spurensuche begeben: welche Fragen waren Orhan Pamuk schon immer wichtig? Welche später bedeutsamen Themen sind im „stillen Haus“ schon angelegt?

Ein paar Gesichtspunkte seien hier erwähnt: die nachgetragene Liebe (im letzten Roman, im „Museum der Unschuld“ umfassend verarbeitet), viel Theoretisches zur Geschichte und zum Türkentum (im Istanbulroman „Die schwarze Stadt“ thematisiert), Gefühle der Heimatlosigkeit und der ungestillten Sehnsucht (vgl. „Schnee“). Auch ein origineller Zugang zum geschichtlichen Dasein wird aufgezeigt: der Figur des Historikers Faruk erscheinen alle Fakten einer eigenwilligen (Un-) Ordnung unterworfen. Er findet dafür das Bild des Kartenspiels: die jeweiligen Spiele und Spieler bestimmen den Gebrauch (der Fakten). Den Gebrauch von (sinn-) bildlichen, den Weltlauf erklärenden Modellen findet man im „Schnee“ als Schneekristall, in der „schwarzen Stadt“ als belebtes unterirdisches Wachsfigurenkabinett wieder.

Doch was geschieht nun im „stillen Haus“? Aus wechselnden Perspektiven wird ein sommerliches Familientreffen in einer Istanbuler Vorstadt geschildert. Die alte Großmutter Fatma lebt dort mit ihrem als Bediensteten angestellten Stiefsohn Recep, den sie beargwöhnt. Sie fürchtet, er könne ihren Enkeln Faruk, Metin und der kommunistischen Nilgün von seiner Lebens- und Leidensgeschichte erzählen. In dieser Geschichte spielt Fatma eine unrühmliche Rolle: sie schlug die Kuckuckskinder ihres verstorbenen Mannes Selahattin zu Krüppeln, weil sie seine Affäre zum Hausmädchen nicht (mehr) ertrug. Fatma kommt mit dieser Schuld schwer klar, verflucht ihren Mann, der sie erst zur Schuldigen machte: durch seine politische Haltung war ein Wegzug aus dem großbürgerlichen Istanbul nötig geworden. In der dörflichen Provinz leben sie nicht von seinen Einkünften als fortschrittlicher Arzt – er ordiniert nicht für strenggläubige „Bauerntölpel“ – sondern von ihrem Familienschmuck. Selahattin ist Aufklärer mit missionarischem Eifer. Er beschließt eine moderne türkische Enzyklopädie zu verfassen. Seine passive, theoretisierende, zehrende Existenz erinnert an die russischen Realisten – große Fragen nach Gott, Tod und Orient/Okzident-Differenz werden thematisiert. Da er in Fatma keine zustimmende Zuhörerin findet ergibt er sich dem Alkohol und der Lust. Recep und Ismail sind seine außerehelichen Kinder. Recep bleibt kinderlos, Ismails Sohn Hassan spielt in Kindertagen mit den drei Enkeln. Beim diesmaligen Besuch sind Fatmas Enkel (junge) Erwachsene. Ihre Themen sind die Zukunft, die Geschichte, ihre Erinnerung und die Liebe. Metin verliebt sich in die reiche Nachbarstochter Ceylan, der nationalistische Hassan in Nilgün. Nach einer Woche unterschiedlicher Begegnungen gibt es eine Tote und eine versuchte Vergewaltigung zu vermelden und die verbitterte Großmutter Fatma bleibt allein zurück.

Pamuks Buch deckt eine breite Themenpalette ab. Einerseits das ungelebte Leben und die Unzugehörigkeit – andererseits der Wunsch nach Überwindung dieses unbefriedigenden Zustands, der mitunter in gewaltreichen Formen Ausdruck findet: ein regelrechter Liebes-Leidens-Leibes-Druck zieht sich durch die (Familien-) Geschichte. Aber auch die Differenz zwischen Ost und West, Vergangenheit und Moderne spiegelt er in seinen Charakteren und ihren Gedankenprojekten gut wider. Faruk und Selahattin bringen Geschichtsphilosophie mit ein. Das Heroische und der Wunsch nach Exzentrik ist in den juvenilen Phantasien Hassans und Metins gut verarbeitet – Erwachsenwerden: ein weiteres Thema des veränderungsreichen Entwicklungsromans. Aber auch das Abschiednehmen im Alter, das Zurückbleiben, das Nicht- Weggehen- Können vs. Zwangsexil sind wesentliche Veränderungsthemen, die Pamuk im „stillen Haus“ wortmächtig umsetzt. Sympathisch ist Pamuks grundsätzliche Haltung der Lösungslosigkeit – das Leben birgt nicht den Sinn schlechthin in sich, sondern (lediglich) mannigfaltige Möglichkeiten. Und (Fatmas) Erinnerung an gewählte und entgangene Wege, die Suche nach Vergebung, nach (Selbst-) Entschuldung setzt Pamuk sprachlich sehr gut um.

Der Sprache und dem (belastenden All-) Bedenken widmet der Autor seine ganz besondere Aufmerksamkeit. Dies fällt auf, da viele Protagonisten diesem Thema Bedeutung beimessen. So quittiert Recep Selahattins Rat „Lebe großzügig und frei und glaube nur an Dich selbst und Deinen Verstand, hörst Du?“ mit „Worte dachte ich, nichts als Worte, Töne, die sich auflösen, sobald sie an der Luft sind; (…) Und im Gedanken an die Worte schlief ich ein.“. Diesen Schlaf des Gerechten, vom Aufklärerwillen Selahattins undurchdrungenen Lebensschlaf findet der verzweifelte Faruk nie: „Ich möchte loswerden, was mein Verstand sich da immer zusammenreimt, und mich in einer Welt außerhalb meines Verstandes frei bewegen – doch ich kann mich ja nie gehen lassen und werde mich immer in den Gespinsten meines Verstandes im Kreis drehen, verdammter Mist, …“. Ihm bleibt es sich zu wundern „über Leute, die gern Verantwortung übernehmen, denn ich liebte es überhaupt nicht von meinem Bewusstsein auf frischer Tat ertappt zu werden und überhaupt: Moralismus, das war ja wie die Fotografen, die beim Fußball hinter dem Tor stehen und den Torwart nerven!“. Die Unmöglichkeit sich mit den Waffen des Geistes aus diesem bedenkenden Kreis zu katapultieren, sieht Faruk angesichts der den Körper betonenden Bauchtänzerin im Touristenhotel ein – Selahattin beim Verfassen des Enzyklopädieartikels über den Tod. Doch letztlich gehören auch sie beide weiterhin dem „schlafenden Orient“ an, da sie die „dumpfe, gesellige Ruhe des Gemüts“ in der Geselligkeit vorziehen und sich nicht beibringen lassen wollen „sich nicht vor der Einsamkeit zu fürchten, sondern vor dem Tod“. Diese Unruhe stiftende Heideggersche Todesfurcht, die Pamuks Denker dem linden Paradiesglauben entgegensetzt, befällt jedoch konsequenterweise niemanden – selbst die Zeugen des Todes schauen die Tote an als stünde sie gleich wieder auf und selbst Fatma entrüstet sich: „Man sollte wieder von vorn anfangen dürfen“. Der junge Orhan Pamuk findet einen schönen aporetischen Schlusssatz zu dieser Thematik: „Wenn die einmalige Lebensreise vorbei ist, kannst Du sie nicht von neuem beginnen, aber wenn Du ein Buch in der Hand hast, und mag es noch so verworren und unverständlich sein, dann kannst Du, wenn Du willst, um das Unverständliche und das Leben doch noch zu begreifen, das Buch noch einmal von vorne lesen, nicht wahr, Fatma?“. Dem Leser sei es nachdrücklich angeraten, es Fatma gleichzutun – und ins Pamuksche Gedankenmeer immer und immer wieder einzutauchen! Man taucht mitunter gar als ein andrer auf – wohl das schönste Kompliment, das man gerade diesem Buche machen kann.

Literaturangabe:

PAMUK, ORHAN: Das stille Haus. Übersetzt aus dem Türkischen von Gerhard Meier. Carl Hanser Verlag, München 2009. 368 S., 24,90 €.

Weblink:

Carl Hanser Verlag


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