HAMBURG (BLK) – „Wie es gewesen ist, Franz Kafka zu sein“ – das will Reiner Stach herausfinden und erzählen – und gesteht ein, dass dies eine letztlich unerfüllbare Utopie bleibe. Aber einen langen, wenn auch vergänglichen Blick auf Kafkas Leben hält er für möglich. Vor sechs Jahren erschien der erste Band seiner Kafka-Biografie („Die Jahre der Entscheidungen“), nun folgt der zweite („Die Jahre der Erkenntnis“, beide im S. Fischer Verlag). Der Literaturwissenschaftler Stach versucht, sich in Kafka (1883-1924) und die Menschen um ihn herum einzufühlen, aber er berichtet nur, was sich belegen lässt.
Herr Stach, warum geht uns Kafka derart unter die Haut?
Stach: „Darüber brüten schon Generationen. Das gilt ja selbst für Leute, die nichts über Kafka wissen und keine Vorstellung von seiner Lebenswelt haben. Stellen Sie sich einen Studenten in Japan vor, für den Kafka Pflichtlektüre ist. Selbst von solchen Lesern hört man immer wieder, die Texte gingen ihnen unter die Haut. Das kann nur bedeuten, dass die Schicht, die er da anspricht in uns, tiefer liegt als die kulturellen Prägungen. Ich glaube, dass zum Beispiel die Angst vor anonymen Lebensmächten über alle Kulturgrenzen hinausreicht. So dass etwas wie ‚Der Prozess’ international verstanden werden kann. Ich glaube, die Wirkung von Kafka kommt daher, dass er diese sehr tiefe, im Unbewussten verborgene Schicht anspricht. Es sind ähnliche Mittel, mit denen der Film arbeitet, zum Beispiel, indem er auf den Schrecken nur deutet, ihn aber nicht zeigt. Die Folge ist, dass jeder auf der Welt dort, wo die leere Fläche ist, seinen eigenen Schrecken sieht. Das macht Kafka auch. Er zeigt die Richter im ‚Prozess’ nicht, und er sagt auch nicht, wie es in den obersten Instanzen zugeht. Die Fantasie macht mehr Angst als die Realität.“
Das, was Kafka anspricht – Selbstzweifel, Bindungsangst, Panik davor, das Leben zu verpassen – scheint ja ziemlich aktuell zu sein, oder?
Stach: „Ja, selbstverständlich. Ich habe oft Passagen von Kafka auch Leuten vorgelesen, die von seiner Literatur wenig Ahnung hatten, und die haben immer wieder gesagt: Das kennen wir doch. Wenn Sie zum Beispiel Schülern ‚Eine kaiserliche Botschaft’ vorlesen, dann weiß nicht jeder, was der Text genau bedeutet. Aber jeder ist berührt. Dass der Kaiser mir persönlich eine Botschaft sendet, und diese Botschaft kommt niemals an – da läuft es einem kalt den Rücken runter, denn diese Situation ist ja eigentlich schlimmer, als wenn es weder den Kaiser noch die Botschaft gäbe. Kafkas Kunst besteht darin, dass er die adäquaten, wirkungsvollsten Bilder und Metaphern findet. Ich habe mich lange gefragt, wie es eigentlich kommt, dass Kafkas Texte gar nicht altern, dass sie gar keine Patina anzusetzen scheinen. Während andere Texte von gleichem sprachlichen Niveau, etwa von Thomas Mann, deutlich Patina ansetzen, weil man das Gefühl hat, die Probleme, um die es da geht, entfernen sich von uns immer weiter. Das kann nur bedeuten, dass diese Probleme konkreter sind, dass sie also einmal aktuell waren und nun allmählich historisch werden, etwa die Rolle der Kunst in der bürgerlichen Gesellschaft oder das zivilisatorische Versagen der Deutschen nach 1933. Während bei Kafka ein tieferes, sozusagen ‚zeitloses’ Erleben angesprochen wird, zum Beispiel die unheimliche Tatsache, dass man sich selbst niemals völlig verstehen kann. Man kann schon sagen, Kafka spielt in einer eigenen Liga.“
Viele stellen sich Kafka als rauschhaften nächtlichen Schreiber vor, dem seine Texte gleichsam passieren. War das so, oder hat er seine Mittel bewusst eingesetzt, hatte er sein Handwerkszeug im Griff?
Stach: „Das hatte er auf jeden Fall. Das war eine kontrollierte Ekstase. Er nennt es zwar nicht so, aber es gibt Briefstellen, in denen er gesteht, dass er Szenen, in denen jemand zu Tode kommt, sehr bewusst auf die Wirkung auf den Leser hin konzipiert hat. Zum Beispiel das Sterben des Käfers in der ‚Verwandlung’. Es ist schon so geschrieben, dass es einen mitnimmt, und das ist Absicht. Er hat es Freunden vorgelesen, er hat die Wirkung beobachtet, und er hat damit gespielt.“
Aber war er nicht auch schreibsüchtig? Hat es nicht schon etwas Krankhaftes, wie sehr er das Schreiben brauchte?
Stach: „Krankhaft würde ich nicht sagen. Er hat das Bewusstsein gehabt, dass er in der Sprache lebt. Die Sprache war sozusagen sein Sauerstoff, sein Lebensstoff. Das heißt auch, dass er das Schreiben oft als Selbsttherapie benutzt hat. Er konnte ja nie lockerlassen, stand immer unter psychischem Hochdruck. Wenn die Impulse, die von innen kamen, übermächtig wurden und ihn so bedroht haben, dass er das Gefühl bekam, die psychische Balance gehe verloren, dann hat er manchmal das Schreiben bewusst als Therapeutikum eingesetzt. Zum Beispiel der Winter, in dem er ‚Das Schloss’ konzipierte. Da geht aus dem Tagebuch deutlich hervor, dass er sich in eine größere Arbeit zu retten versuchte.“
Hat ihn die Angst, man könnte ihm das Schreiben nehmen, aus seinen Verlobungen, aus seiner Familie hinausgetrieben?
Stach: „Der Preis, den er bezahlt hat, war sehr hoch, aber diese Bedeutung des Schreibens gilt ja nicht für das ganze Leben. Es gab auch lange Schreibflauten. Zum Beispiel nach der Schreibphase 1914/15 – als sie aufhörte, brach auch ‚Der Prozess’ ab, und dann kam eine Flaute, die dauerte anderthalb Jahre. Und ich bin mir nicht sicher, ob sich Kafka in dieser Zeit überhaupt noch als Schriftsteller gesehen hat. Ich glaube nicht. Er hat nicht einmal mehr Tagebuch geschrieben. Als er dann den Versuch machte, aus diesen toten Gewässern wieder herauszukommen, hatte er auch keine Lust mehr zu erzählen, sondern er wollte etwas ganz anderes machen. Er hat dann Parabeln geschrieben, die im Band ‚Ein Landarzt’ gesammelt wurden, und das sind völlig andere Texte als ‚Das Urteil’ und ‚Die Verwandlung’, nämlich Reflexionstexte.“
Wie kommt es, dass Kafka – wie kaum ein anderer Autor – Leute dazu bringt, über ihn zu schreiben?
Stach: „Das hat er provoziert. Wegen ihrer Mehrdeutigkeit, aber auch, weil sie im entscheidenden Moment nicht präzise sind, provozieren seine Texte die Frage nach ihrer Bedeutung. Wenn Sie sich zum Beispiel das Manuskript des ‚Schloss’-Romans anschauen, dann sehen Sie, dass Kafka an vielen Stellen den Text, der ihm zu eindeutig war, mit voller Absicht mehrdeutig gemacht hat. Außerdem handeln viele seiner Erzählungen ja gerade von der vergeblichen Anstrengung, etwas zu verstehen – da scheint es manchmal, als mache er sich einen Spaß mit der Neugier seiner Leser.“
Gilt das auch für Kafkas Leben? Bleibt das auch im Uneindeutigen, im Unentschiedenen? Wenn er heiraten will, es aber nicht tut, wenn er nach Berlin gehen will, aber in Prag bleibt?
Stach: „Das hat sicherlich neurotische Züge. Es ist das Verhalten von Menschen, die, wenn sie schwierige Entscheidungen treffen müssen, nicht zwischen zwei oder drei Gründen und Gegengründen abwägen, sondern zwischen hundert. Wenn man leben will, muss man Entscheidungen treffen, man kann sie nicht ewig hinauszögern, man muss den Reflexionsprozess irgendwann abbrechen und sagen: Wenn ich nicht auf rationalem Weg herausfinde, was besser für mich ist, dann muss ich eine Bauch-Entscheidung treffen. Aber jetzt stellen Sie sich jemanden vor, der psychisch nicht in der Lage ist zu sagen: Jetzt breche ich ab und fälle eine Entscheidung nach Gefühl. Dieser Sprung war Kafka zumeist verwehrt, und das ist ein eindeutig neurotisches Symptom, mit dem er auch anderen das Leben schwer gemacht hat. Er macht ja sogar einmal eine Tabelle mit Gründen für und gegen eine Heirat mit Felice Bauer. Aber so kann man zu keinen tragfähigen Entscheidungen kommen, jedenfalls nicht, wenn es um soziale Beziehungen geht.“
Warum lesen so viele Menschen Bücher über Kafka, dessen Leben doch äußerlich eher langweilig war?
Stach: „Ich empfinde es nicht als langweilig. Im heutigen Event-Sinn hat er wenig erlebt. Aber der Modernitätsschub, den er mitgemacht und genau beobachtet hat, war ungeheuerlich. Der Siegeszug von Auto, Flugzeug und Telefon. Der Weltkrieg, das Kollabieren der Gesellschaft, in der er aufgewachsen war. Die Juden, die ohnehin schon immer bedroht waren und die sich nun plötzlich ohne staatlichen Schutz sahen. Er wachte auf und es gab kein Österreich-Ungarn mehr, er war Bürger einer tschechischen Republik, in der viele Politiker antideutsch und antisemitisch waren. Das ist auch der Grund, warum er immer mehr mit dem Gedanken an Palästina gespielt hat. Das war nicht mehr seine Welt, was er da vorfand.“
In den letzten Monaten seines Lebens, als er mit Dora Diamant zusammenlebte, scheint er ein ganz anderer Mensch gewesen zu sein. Hätte er derart lockerlassen können, wenn er nicht schon todkrank gewesen wäre?
Stach: „Nein, das hätte er nicht gekonnt. Er hat immer versucht, möglichst wenig von seiner Intimität preiszugeben, andere nicht zu nahe an sich herankommen zu lassen. Das musste er aber am Ende. Da blieb ihm gar nichts anderes übrig, weil er körperlich hilflos war. Er musste sich damit abfinden, dass andere Menschen sich in sein Leben einmischen, und er konnte nur noch darum kämpfen, dass das nicht die falschen Menschen waren. Seine asketische Lebensform brach zusammen unter seiner Krankheit.“
(Interview: Jürgen Hein, dpa/wip)
Literaturangaben:
STACH, REINER: Kafka. Die Jahre der Erkenntnis. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2008. 729 S., 29,90 €.
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