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Kafka: Genie mit Präservativ

Nicholas Murray lüftet das Geheimnis um „Kafka und die Frauen“

© Die Berliner Literaturkritik, 19.11.08

 

Ein Buch über Kafka und die Frauen? Zunächst erwartet man ein psychologisierendes Machwerk, das über Kafkas Liebesleben spekuliert und dabei vielleicht den Autor mit seinem Werk verwechselt. Glücklicherweise bestätigt sich diese Erwartung nicht. Der Titel der Biografie lautet im englischen Original einfach „Kafka“. Dem deutschen Verlag war es anscheinend wichtig, das Werk von den zahllosen weiteren Büchern über Kafka abzugrenzen. So zieren die Fotos und Namen der wichtigsten Frauen in seinem Leben den Buchumschlag (Felice Bauer, Milena Jesenská, Dora Diamant). Das Buch besteht aber aus mehr als nur einer Beschreibung von Kafkas Liebesbeziehungen.

Murray hat ein genau recherchiertes und umfassendes Buch geschrieben, das das Leben und den Schaffensprozess Kafkas chronologisch erzählt. Angefangen bei der Kindheit wird das Leben des Autors anhand von Tagebuchaufzeichnungen, Zitaten von Zeitgenossen und historischen Daten nachgezeichnet. Neben seinem Verhältnis zu den Frauen stehen sein literarisches Werk und dessen Entstehungsgeschichte im Mittelpunkt. Dabei beschäftigt Murray sich auch mit den historischen Bedingungen, unter denen Kafka schrieb.

Den allseits bekannten Fakten und Klischees (Kafka hatte ungewöhnliche Essgewohnheiten, er schrieb meistens nachts, im Durchgangszimmer seines Elternhauses, er hatte ein schwieriges Verhältnis zu seinem Vater) wird nachgegangen. Sie dienen der Charakterisierung Kafkas, werden allerdings, zumindest teilweise, von Murray hinterfragt. Das macht oft den Eindruck, als misstraue der Biograf seinem Protagonisten, wenn er etwa Kafkas Berechtigung zur Klage über seinen Vater in Frage stellt. Er hätte sich nicht so anstellen sollen, klingt dann durch. Das Suchen nach äußeren Begründungen, nach einer Berechtigung für Kafkas Gefühlsleben wirkt manchmal störend. Eine unfehlbare Instanz, die das passende Maß von Gefühlen bestimmt? Murray betont immer wieder seinen Zweifel an der Korrektheit von Kafkas Empfinden. Einen Tagebucheintrag Kafkas über die schädliche Wirkung seiner Erziehung kommentiert Murray so: „Vermutlich empfand Kafka so, und originelle und schöpferische Geister finden an ihrer Ausbildung zumeist etwas auszusetzen. Ohnehin ließ er sich nie eine Gelegenheit entgehen, die Dinge in den schwärzesten Farben zu malen.“ Welches Maß außer Kafkas Empfindung setzt er an?

Andererseits ist die Abkehr Murrays von einer Ikonisierung Kafkas sehr wohltuend. Von Geniekult keine Spur: Kafka nahm als junger Mann an Treffen anarchistischer Gruppen teil, er besuchte Kaffeehäuser und hatte überhaupt mehr von einem gewöhnlichen jungen Mann als gemeinhin zugegeben wird.

Wirklich störend sind die Bemerkungen des Autors über die jüdische Bevölkerung Prags zu Kafkas Lebzeiten. Heute noch zu schreiben, antisemitische Übergriffe seien verständlich, weil durch den Reichtum der Juden zu erklären, ist erschreckend: „Wenn man also bedenkt, dass der deutsch sprechende Prager Jude ein Industrieller, wohlhabender Geschäftsmann, leitender Bankangestellter, ein Arzt oder Rechtsanwalt mit großer Praxis bzw. Kanzlei war, ein Universitätsprofessor; dass fast der gesamte Großhandel und fast der gesamte Import-Export-Handel in jüdischer Hand und das gesamte Geschäft mit teuren Modewaren ein jüdisches Monopol war, erkennt man unschwer, warum es Ressentiments gab und warum antisemitische Klischees in Blüte standen.“

Das Hauptthema dagegen, Kafkas Hemmungen im Umgang mit Frauen, ist nachvollziehbar dargestellt. Allein der Verlauf seiner Beziehung zu Felice Bauer, die neben hunderten von Briefen im ersten Jahr aus nur zwei Treffen bestand und mit der Auflösung der Verlobung endete, zeigt seine Unsicherheit. Murray zitiert die bekannten Briefe, in denen sich Kafka ständig der eigenen Beziehungsunfähigkeit bezichtigt. Die Frage, warum Felice Bauer den Kontakt dennoch so lange aufrechterhielt, kann Murray nicht beantworten. Dass Kafka durchaus sexuelle Kontakte hatte, unter anderem zu Prostituierten hat, wie seine angebliche Lektüre von pornografischen Magazinen, kürzlich für Aufsehen gesorgt. Murray macht deutlich, dass Kafka nicht nur der in sich gekehrte Schriftsteller war, als der er gern dargestellt wird.

Insgesamt vermittelt das Buch ein plastisches Bild von Kafkas Lebenswelt und der Umgebung, in der er sich bewegte. Das Alltagsleben der deutschsprachigen Bevölkerung Prags, jüdisches Leben im frühen 20. Jahrhundert, Familienleben in der bürgerlichen Gesellschaft, werden beschrieben. „Kafka und die Frauen“ ist ein flüssig geschriebenes und unterhaltsames Buch, das sich eher an ein Laienpublikum richtet als an Literaturwissenschaftler. Die Kenntnis von Kafkas Werken wird nicht vorausgesetzt. Die wichtigste Erwartung an eine Schriftstellerbiografie ist erfüllt: Das Buch weckt Lust, Kafkas Werke (noch einmal) zu lesen.

Von Claire Horst

Literaturangaben:
MURRAY, NICHOLAS: Kafka und die Frauen. Felice Bauer, Milena Jesenská, Dora Diamant. Biographie. Übersetzt aus dem Englischen von Angelika Beck. Artemis & Winkler, Düsseldorf 2007. 347 S., 24,90 €.

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