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Wehler: „Der Nationalsozialismus“

Kann das Ungeheuerliche erklärt werden?

© Die Berliner Literaturkritik, 19.06.09

Hans-Ulrich Wehler hatte vor der Veröffentlichung des vierten Bandes (2003) seiner „Deutschen Gesellschaftsgeschichte“ nie eine größere Monographie über den Nationalsozialismus verfasst. Aus seinen Schriften und Äußerungen wird aber deutlich, dass all seine Abhandlungen über das 19. Jahrhundert und die Kaiserzeit sowie seine theoretischen Schriften stets auf die Zeit von 1933 bis 1945 bezogen waren. Sein Buch über den „Nationalsozialismus“ enthält den neunten Teil (dieses vierten Bandes), der— ohne die literaturkumulierenden Anmerkungen Wehlers—mit seinen 350 Seiten erheblich umfangreicher als die separate Veröffentlichung ist, zumal die Anmerkungen fünfzig Seiten umfassen.

Im Vorwort weist Wehler auf „eine wörtliche Übernahme der früheren Ausführungen“ ausdrücklich hin. Ein Vergleich zeigt, dass er den Text fast aller zwanzig Kapitel so gut wie vollständig aus seiner „Gesellschaftsgeschichte“ übernommen hat, wobei manches umgestellt, vieles weggelassen und einiges ergänzt wurde. Obwohl es Wehler um „eine keineswegs eng verstandene Politikgeschichte“ geht, ließ er kurioserweise all das fort, was seine „Gesellschaftsgeschichte“ gerade ausmacht: also die Abschnitte über die Gesellschaft, die Wirtschaft und die Kultur. Die Ergänzungen, von denen Wehler im Vorwort spricht, machen nur einige Seiten aus.

Wehler will eine komprimierte Analyse „mit zugespitzten Formulierungen präsentieren“ und den Nationalsozialismus „in jene Zusammenhänge“ einordnen, „die der historische Prozess in Deutschland, aber auch in Europa geschaffen hat.“ Es gelte, „einige ausgefahrene Bahnen der Deutung des Nationalsozialismus und der Führerdiktatur zu verlassen und sich einer aussichtsreicheren Erklärung zuzuwenden.“

Wehler deutet den Nationalsozialismus als eine politische Religion, und er bezeichnet Hitler mehrfach als den „neuen Messias“. Vermutlich hebt er das quasi-religiöse Wesen des Nationalsozialismus so sehr hervor, um seine anhaltende Wirkung auf die Deutschen verständlich zu machen. Führerkult und Nimbus Adolf Hitlers entsprangen „weit eher der spontanen Verehrung des ersehnten politischen Messias“ als der Goebbels’schen Propaganda. „Ohne Hitler wäre der Nationalsozialismus aller Wahrscheinlichkeit nach eine ordinäre autoritär-nationalistische Partei mit diffusen Zielen geblieben.“

Da Wehler den Nationalsozialismus nicht als eine neue Ideologie ansieht, sondern als einen „vielfältig“ angereicherten Radikalnationalismus, meint er die „Kontinuitätslinien“ stärker als eine zu oft überschätzte Diskontinuität hervorheben zu können. Das „Krisensyndrom der Nachkriegszeit seit 1918 hat den Bismarck-Kult mit emotionalisierter Übersteigerung in eine chiliastische Erwartungshaltung verwandelt“. Selbst wenn der Bismarck-Mythos in den zwanziger und dreißiger Jahren des 20. Jahrhunderts „eine unerhörte Wirkung“ gewonnen hat, wird die nationale Sehnsucht nach einem „neuen“ oder „zweiten Bismarck“ von Wehler wohl doch ein wenig überstrapaziert. Offenbar möchte sich Wehler von der Idee des deutschen Sonderweges nicht trennen: denn die Zustimmung zu Hitler habe „auf jener in der deutschen politischen Kollektivmentalität gespeicherten sozialen Disposition“ beruht, „in Krisenzeiten auf das Handeln großer historischer Individuen zu vertrauen.“

Einen schwachen Diktator will Wehler in Hitler nicht sehen, auch wenn das nationalsozialistische System in mancher Hinsicht nicht „zu konsequenten Durchsetzungs-, geschweige denn harten Zwangsmaßnahmen“ willens oder fähig gewesen sei. Wehler bezeichnet es als „eines der Grundgesetze des Regimes“, „dass charismatische Herrschaft und Polykratie in wechselseitiger Verschränkung einander bedingten“. Angesichts der Vielzahl der konkurrierenden Institutionen und Ämter im Nationalsozialismus und des Kompetenzwirrwarrs spricht Wehler vom „Dschungelkampf der Sonderstäbe und Behörden“, der kennzeichnend für das „Organisationsprinzip charismatischer Herrschaft“ und das „‚gelenkte Chaos polykratischer Herrschaftsparzellierung“ gewesen sei. Mitunter stellt sich bei der Lektüre von Wehlers Ausführungen die Frage, ob Hitler und die nationalsozialistische Elite ihren Staat selbst völlig durchschauten.

Wehler hebt die Offenheit der Entwicklung hervor: „keiner“ habe am 30. Januar 1933 voraussehen können, welches Ausmaß der Herrschaftsabsicherung nach lediglich anderthalb Jahren durchgesetzt sein würde, und auch Hitler war von Gegebenheiten und Situationen abhängig. Für die Mobilisierung der Massen und der Anhänger Hitlers sei weder der—später vorrangige—Vernichtungsantisemitismus noch das Ziel der Ostexpansion wichtig oder geeignet gewesen: Entscheidend waren neben Hitlers charismatischer Ausstrahlung vielmehr die erklärten Ziele, Deutschlands nationale Größe wiederherzustellen, den Versailler Vertrag zu revidieren und die gesellschaftliche Krise durch eine Volksgemeinschaft zu überwinden.

Hitlers Führerdiktatur habe in den Friedensjahren „eine stürmisch wachsende“ Zustimmung in der deutschen Gesellschaft erfahren, zumal es „verfehlt“ wäre, „den Führerstaat primär als Terrorregime zu charakterisieren“. Die außenpolitischen Erfolge, „die sich vorrangig mit Hitlers Person verbanden“, hätten in den dreißiger Jahren die innenpolitischen sogar noch übertroffen. Wäre Hitler 1938 verstorben, so hätten ihn die Deutschen trotz seines schon damals zu verantwortenden Leids vermutlich „als größten Staatsmann ihrer neueren Geschichte verehrt“.

Vor vierzig Jahren, in seinem Buch „Bismarck und der Imperialismus“, ging Wehler von dem „Primat der Innenpolitik“ und dem Vorrang der „sozialökonomischen Expansionsmotive“ aus. Ein solcher „Sozialimperialismus“ lenke innenpolitische Probleme nach außen ab, um zeitgemäße Reformen und „innere Emanzipation“ zu verschleppen und hinauszuzögern. Wehler zog von der „charismatisch-patriarchalischen Herrschaft“ Bismarcks und seiner „bonapartistischen Diktatur“ eine „Verbindungslinie“ „zum extremen Sozialimperialismus des Nationalsozialismus, der durch den Ausbruch nach ‚Ostland‘ noch einmal den inneren emanzipatorischen Fortschritt aufzuhalten und von der inneren Unfreiheit abzulenken versucht hat“.

Heute weist Wehler entschieden die These zurück, der Angriff auf Polen sei die „Ultima Ratio zur Überwindung der inneren Systemkrise“ gewesen. Wehler zeigt, dass die Außenpolitik Zweck und Ziel des Nationalsozialismus gewesen ist und nicht vorrangig der Ablenkung von innenpolitischen Problemen gedient hat. Auch seien es nicht „mächtige Interessenaggregate“ der deutschen Gesellschaft gewesen, die einen Krieg gegen Polen, „geschweige denn gegen Frankreich“ anstrebten, sondern es war Hitler.

Berücksichtigt man Wehlers in einem veröffentlichten Gespräch geäußerte Ansicht, dass ihn die „18 Millionen Soldaten relativ wenig“ interessieren, so ist ihm eine gut erzählte und anschauliche Schilderung der Kriegsgeschichte gelungen. Mitunter klingt es fast schon patriotisch, was Wehler über die militärischen Leistungen der deutschen Truppen schreibt. Den wichtigsten Grund für die hohe Kampfmoral der Wehrmacht sieht Wehler nicht in der nationalsozialistischen Indoktrination, sondern in der Führergläubigkeit. Der ‚alte Wehler‘ kommt zum Vorschein, wenn er die „idealisierte Tradition des preußisch-deutschen Militärwesens“ kritisiert, „die geradezu zu einer Vergötterung soldatischer Heroen, Leistungen und Tugenden geführt hatte“.

Hitlers Antimarxismus sei voll ausgeprägt gewesen, „längst ehe die Bolschewiki und die Sowjetunion in sein Gesichtsfeld traten.“ 1988 bestritt Wehler, dass die bolschewistische Klassenkriegführung große Angst erzeugt habe: „Diese konstatierbare Angst, die jedoch niemals das realhistorische Fundament einer tatsächlich geplanten militanten Kooperation dieser beiden Kräfte [der KPD und der Sowjetunion] mit dem Ziel des revolutionären Umsturzes besessen hat, ist von 1917/20 bis 1933 maßlos dramatisiert worden.“ Jetzt weist Wehler darauf hin, dass die „KPD-Reste von der Außensteuerung durch Direktiven der Stalinschen Politik abhängig“ blieben. Über die Endphase der Weimarer Republik schreibt Wehler in seiner „Gesellschaftsgeschichte“: „Doch in der Stimmungslage einer politischen Öffentlichkeit […] wurde der Zangendruck, den die Sowjetunion von außen und die KPD von innen erzeugten, jetzt erst recht als so bedrohlich empfunden, daß der leidenschaftliche Antimarxismus der NSDAP ihren ‚Führer‘ als Retter vor der ansteigenden roten Flut aufwertete.“

Moskau habe der KPD die Marschroute vorgeschrieben, und Thälmann schwor „seine Partei auf die sklavische Unterstützung der Politik des Moskauer Diktators ein“. Wehler bezeichnet die KPD als den „fundamentalistischen Todfeind“ der Weimarer Republik. Der gute Abschnitt „Der Aufstieg des deutschen Kommunismus“ in Wehlers „Gesellschaftsgeschichte“, in dem diese wichtigen Bemerkungen enthalten sind, wurde von Wehler aber nicht in sein Buch über den „Nationalsozialismus“ übernommen.

Dass es weder offenen noch wirkungsvollen Protest gegen die antijüdische „Apartheidspraxis“ gegeben habe, ist für Wehler eine Bestätigung, „auf welches tiefgelagerte Unterstützungspotential der militante Antisemitismus, der sich seit dem Anfang und dem Ende der Weimarer Republik in den Parteien, den Verbänden und in der Öffentlichkeit verstärkt herausgebildet hatte, zurückgreifen konnte“. Jedoch habe Hitler „seinen atemberaubenden Aufstieg seit 1929/30 keineswegs primär der Mobilisierung des deutschen Antisemitismus“ verdankt. Auch nach 1933 war der Antisemitismus nicht von vorrangiger Bedeutung für den Zuspruch, den Hitler erfuhr. „Der praktizierte Antisemitismus des ‚Dritten Reiches‘ war nicht das Ergebnis einer judenfeindlichen Massenstimmung“, weshalb er „auch keiner systemfördernden Integration dienen“ konnte.

Wehlers Darstellung verdeutlicht die weltanschaulichen Divergenzen zwischen Führer, Herrschaftselite und Anhängern und ihre unterschiedlichen Interessen. „Viele unterschiedliche Motive und Initiativen flossen da [bei der Umsetzung und Realisierung der Ermordung der Juden] zusammen.“ Der Radikalnationalismus sei die wichtigste aller „Schubkräfte“ des Nationalsozialismus gewesen, auch wenn „zu seinem Kernbestand ein gesteigerter Antisemitismus und ein durch die KPD und den Bolschewismus verschärfter Antimarxismus“ gehörten. Aber schon im nächsten Absatz widerspricht sich Wehler, wenn er schreibt: „Der Judenhass erwies sich als die vergleichsweise stärkste Motivationskraft.“

Nachdrücklich und mehrfach wird die „zugespitzte These“ betont, dass es ohne Hitler nicht zum Judenmord und Holocaust gekommen wäre. Wehler spricht von den „jüdischen Bolschewiki“, durch die sich Hitler offensichtlich sehr beunruhigt fühlte. Da die „arische Nation“ auch durch den internationalen Marxismus als gefährdet betrachtet wurde, „stellte der ‚marxistische Jude‘ namentlich in der KPD und in der Sowjetunion den Gipfel der Bedrohung dar. Auch hier gilt es zu beachten, daß damit noch kein gradliniger Weg nach Auschwitz vorgezeichnet war.“ Erst durch den Krieg eröffneten sich „neue Handlungsmöglichkeiten“. Wehler spricht vom Krieg gegen die Sowjetunion (die er anachronistisch als „Rußland“ bezeichnet) als einem „antibolschewistisch-antijüdischen Vernichtungskrieg“ und von „der perversen Faszination, die von dem Holocaust-Projekt ausging“. Mehrfach betont er, dass „Rassenzüchtung und Judenmord“ der empfundenen Herausforderung durch die Moderne begegnen sollten. Dennoch will oder kann Wehler manches nicht zusammendenken, zusammenbringen: So bemerkt er, dass den Juden „einzig und allein die Zugehörigkeit zu ihrer ‚Rasse‘ vorgeworfen wurde“; drei Seiten darauf aber: „Sie [die Juden] verkörperten für ihn [Hitler] alle unbegriffenen, tödlichen Gefahren der Moderne.“

Ohne den verstorbenen Historiker Andreas Hillgruber zu erwähnen, kritisiert Wehler dessen These eines „Stufenplans“, „den Hitler angeblich Schritt für Schritt verwirklichen wollte“. Aber Wehler fügt ein „dennoch“ ein, was er Ende der achtziger Jahre wohl kaum getan hätte. Noch erstaunlicher ist es, dass Wehler von einer „programmatischen Zielfixierung“ Hitlers und den „Etappen dieses gewaltigen Eroberungskriegs“ spricht, die Hitler bis zu seinem „‚Zweiten Buch‘ (1928)“ „klar entwickelt“ habe. 1988 hatte Wehler Hillgrubers These von „Hitlers ‚Stufenprogramm‘“ als „eine extrem fragwürdige Konstruktion“ bezeichnet: Denn die Interpretation der nationalsozialistischen Politik als Erfüllung eines Hitler’schen Programms oder Plans, „verrät dagegen ein Mißverständnis der nationalsozialistischen Politik und von Politik überhaupt, die stets auch von anderen Akteuren und nicht geplanten Konstellationen usw. abhängig bleibt, mithin nicht auf Programmverwirklichung reduziert werden kann“.

Heute gibt sich selbst Wehler insofern als ein ‚Intentionalist‘, wenn er schreibt, dass der „Generalplan Ost“ und der „Generalsiedlungsplan“ mit weiteren mehr als 30 Millionen getöteten Russen nur durch die Rote Armee verhindert worden sei. Außerdem strich Wehler im Vergleich zur „Gesellschaftsgeschichte“ das Adjektiv „ominös“ zur Beschreibung der These des „Stufenplans“, womit er seine frühere, überaus heftige Kritik an Hillgruber weiter abschwächt: 1988 wurde Hillgruber von Wehler als „nationalapologetisch“ charakterisiert; in einem umfassenden, 2006 veröffentlichten Gespräch meinte Wehler, dass Hillgruber „ein sehr gescheiter Mann war und alles andere als ein Apologet“.

Auch in den jüngeren, allgemeinen Darstellungen des Nationalsozialismus von Ernst Piper, Michael Wildt und Kurt Bauer—von denen nur letztere, als gut lesbare, umfangreiche Einführung nach Art eines Lehrbuches, eine Hervorhebung verdient und keine mit Wehlers analytischem Zugriff konkurrieren kann—wird zu Recht die Aussonderung, die „Exklusion“, durch die Ideologie und Politik des Nationalsozialismus hervorgehoben. Abgesehen von Daniel Goldhagen und seiner These des spezifisch deutschen „eliminatorischen Antisemitismus“, die Wehler besonders scharf ablehnt, wird erneut Ernst Nolte kritisiert, an anderer Stelle auch mit dem von Wehler seit jeher geschätzten Wort „Apologie“.

Wehler hat aufgrund seines großen Ansehens erheblich dazu beigetragen, eine andere, in einem pluralistisch-liberalen System umso widerwärtigere Form der „Exklusion“ nahezu zu verwirklichen: und zwar die Ausgrenzung eines Historikers, dessen Deutungen für den eigenen Durchsetzungsanspruch, der bei Wehler stark ausgeprägt ist, eine erhebliche Konkurrenz darstellen. Selbst ein ehemaliger Bundeskanzler, der zu den besonders angesehenen Persönlichkeiten Deutschlands zählt, erfährt keine publizistische oder juristische Zurechtweisung, wenn er in „außer Dienst“ das Schwert der Verurteilung gegen den „simplifizierenden Hitler-Apologeten Ernst Nolte“ erhebt.

Wehler schreibt: „Die Expansion im Osten verkörperte keineswegs eine bürgerliche Abwehrkampagne gegen den angriffslustigen Bolschewismus, wobei Hitler als quasi-bürgerlicher ‚Anti-Lenin‘, durch das böse Vorbild des sowjetischen Tyrannen provoziert, bedauerlicherweise über die herkömmlichen Stränge schlug—so in nuce Ernst Noltes Konstrukt.“ Denn nach Wehler sei das ausschlaggebende Motiv Hitlers vielmehr ein Lebensraumimperialismus gewesen. Wehler schreibt jedoch auch, dass es zwei dominierende Ziele gegeben habe: „den Ostraum ‚judenfrei‘ zu machen und zum anderen sogar möglichst alle europäischen Juden als Verkörperung sämtlicher tödlicher Gefahren der Moderne […] auszuschalten“.

In seinem polemischen Essay über die vermeintliche „Entsorgung der deutschen Vergangenheit“, Wehlers Beitrag zum sogenannten Historikerstreit (in dem er, wie er vor einigen Jahren mit anerkennenswerter Selbstkritik bemerkte, mit „Überdramatisierung“ reagiert habe), gab er der Befürchtung einer einsetzenden Relativierung Ausdruck, und er meinte: „[...] diese ganz auf Hitler zentrierte Konzeption [impliziert] eine unübersehbare Entlastung aller Mitwirkenden“. Heute schreibt Wehler dem „Charismatiker“ Hitler eine überragende und entscheidende Stellung zu, und er hält es weder für geboten, Hitler „von vornherein ausschließlich“ als „politischen Großkriminellen“ zu stilisieren, noch ihn „als Inkarnation schlechthin aller negativer Tendenzen des Zeitalters“ hinzustellen. In mancher Hinsicht beurteilt Wehler das nationalsozialistische Selbstverständnis sogar als zutreffend oder realistisch.

Dass die Vernichtungspolitik der Bolschewisten im deutschen Bürgertum und auch bei Hitler eine „existentielle Furcht“ ausgelöst habe, hielt Wehler 1988 für eine „dubiose Behauptung“ Ernst Noltes. Auch war Wehler damals nicht bereit, einen Zusammenhang zwischen den Vernichtungsaktionen im bolschewistischen Russland und Hitlers eigenem Vernichtungswillen zu sehen; er hielt ihn offenbar für absurd.

In seinem neuen Buch spricht Wehler nun vom „furchterregenden Bodengewinn der KPD als symbolische [!] Bedrohung durch einen deutschen Bolschewismus“ und der „Angst vor dem Marxismus“. Der „fanatische Hass“ habe sich nicht in erster Linie gegen „die Schreckensvision einer ‚Diktatur des Proletariats‘ nach der Zerstörung der überkommenen Gesellschaftshierarchie und der Beseitigung des Privateigentums“ gerichtet. „Vielmehr stand im Vordergrund die Angst vor der Auflösung der Nation durch diese linken Kräfte“, also die „bolschewistische Revolution“, die „Konsolidierung der Sowjetunion“ und das „Vordringen der KPD“.

Es findet sich sogar ein Hinweis darauf, dass Hitler Stalins Herrschaftstechnik als Vorbild empfand. Und im vierten Band von Wehlers „Gesellschaftsgeschichte“ heißt es: „Mit diesem bolschewistischen Kommunismus zog eine tödliche Bedrohung schlechthin aller Errungenschaften der westlichen Gesellschaften herauf […], ihrer Orientierungsvision einer ‚bürgerlichen Gesellschaft‘. Angesichts dieser prinzipiellen Herausforderung bahnte sich ein Kampf auf Leben und Tod an.“ So kann Wehler neuerdings den Vergleich von Hitlers Nationalsozialismus und Lenins beziehungsweise Stalins Herrschaftssystem als eine „reizvolle Dimension“ bezeichnen. Und klingt in den Worten Wehlers, wonach sich in Hitler und seiner Herrschaft „alle destruktiven Tendenzen eines Aufbegehrens gegen die Moderne“ bündelten, nicht entfernt Noltes Bestimmung des Faschismus als Widerstand gegen die Transzendenz an?

Mehr als zwölf Mal erwähnt Wehler den „Sozialdarwinismus“, der für ihn ein Zauberwort im Rahmen seiner Erklärung des Nationalsozialismus zu sein scheint: Wer ihn aber mit dem ultraliberalen politischen Denken Herbert Spencers und William Graham Sumners in Verbindung bringt, kann nur über größte Umwege einen Zusammenhang erkennen, der den Begriff unsinnig werden lässt. Da zwei Jahreszahlen, die in der „Gesellschaftsgeschichte“ korrekt waren, zu Fehlern ‚verbessert‘ wurden, kann man nicht sicher sein, ob all die anderen verbesserten Zahlenangaben nun korrekt sind. Die schon in der „Gesellschaftsgeschichte“ zu findende Vertauschung der Namen der beiden Militärbefehlshaber von Frankreich wurde ebenso wenig verbessert wie das unfreiwillig amüsante Wort „Kriegstheater“ (statt ‚Kriegsschauplatz‘). Viele Wendungen werden ohne Autorennamen zitiert, und das Register ist unvollständig.

Hans-Ulrich Wehler ist zu erstaunlichen Aussagen gelangt, und seine Deutung zeichnet sich durch ein—jede wissenschaftliche Beschäftigung erst konstituierendes—Bemühen um Äquidistanz zum Links- wie zum Rechtstotalitarismus aus. Wer sich seine tiefe Verachtung und Ablehnung konservativer Denker und Autoren der Weimarer Zeit vor Augen hält, wird seine Darstellung des ‚Dritten Reiches‘ bemerkenswert finden. Es scheint ganz so, als habe sich Wehler von alten Positionen lösen wollen, als sei er bereit, mehr als nur den ersten Spuren jener Historiker zu folgen, deren Erklärungs- und Deutungskompetenz er im sogenannten Historikerstreit mit Argumenten und durch Insinuationen anzweifelte, die ihre moralische Integrität und politische Loyalität in Frage stellen sollten.

Doch ein Historiker, der so oft und nachdrücklich den „agonalen Wettbewerb“ befürwortet und die Polemik so schätzt wie Wehler, verrennt sich notwendig in seinen ‚Frontstellungen‘. Aufgrund seines Selbstbehauptungsstrebens ist Wehler anscheinend gezwungen, an der verunglimpfenden Kritik Ernst Noltes festzuhalten. Ist es nicht widersinnig, wenn Wehler in seinem hier besprochenen Buch beklagt, dass es „noch nicht zu einem ruhigen Abwägen der strittigen Argumente gekommen ist“? Manche Leser werden Schwierigkeiten haben, einen solchen Historiker ganz ernst zu nehmen – einen Historiker, der selbst hinsichtlich der so schwierigen und erschütternden, von Blut und Tränen durchtränkten Geschichte des Nationalsozialismus die „zugespitzten Formulierungen“ schätzt.

Von Andreas R. Klose

Literaturangabe:


WEHLER, HANS-ULRICH: Der Nationalsozialismus. Bewegung, Führerherrschaft, Verbrechen 1919-1945. Verlag C. H. Beck, München 2009. 315 S., 19,90 €.

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