Werbung

Werbung

Werbung

Karsten Krampitz’ Novelle „Heimgehen“

Die Geschichte des Pastors Benno Wuttke

© Die Berliner Literaturkritik, 18.11.09

Von Monika Thees

Er beugte sich nicht, sondern lebte seinen Glauben. Er war ihm Heimat, Hoffnung, Kraft. An der Kirchenwand hing das Plakat „2000 Jahre unbesiegbare Kirche Jesu Christi“, an seinem Pferdefuhrwerk prangte der Spruch „Ohne Regen, ohne Gott geht die ganze Welt bankrott“, nachts strahlte das drei Meter hohe Neonkreuz auf dem Kirchturm von Gierschen bis weit nach Steinbach/Halle hinein. Pastor Benno Wuttke stand aufrecht, im abgetragenen Anzug, mit der kalten Pfeife in der Rechten, blickte jedem in die Augen und bot ihnen die Stirn – den atheistischen Eiferern aus dem Reihen der SED, den Genossen der Volkspolizei, dem Bürgermeister des Dorfes, den Bauern der LPG. Er stellte sich ihnen entgegen, mit Sturheit, Witz und Chuzpe, focht seinen Kampf mit dem dumpfen Köpfen der DDR-Provinz, er holte sich Schrammen und setzte entschlossen an zu gewaltfreiem Widerstand. Sie nannten es Provokation.

Doch dieser Kampf war nicht zu gewinnen, noch nicht. Wuttkes stärkster Gegner war eine anonyme Macht, die zugriff aus dem Dunkeln, nur darauf aus, das Rückgrat ihres Feindes zu brechen mit Verunsicherung, Willkür und Konspiration. Sie hatte viele Gesichter, lauerte hinter Freundlichkeit und vorgetäuschtem Interesse, verbarg sich hinter blumigen Decknamen mit dem Kürzel IM und trug doch nur einen: Stasi. Sie zog ihre Schlinge, ließ die Angst sich heranschleichen, bis in die Wohnung, in die Familie hinein, sie zielte auf den Leib, die physische Existenz. Der Stall hinter dem Pfarrhaus brannte und mit ihm die Schafe und Ziegen, die Wuttke so liebte. Die Wäsche hing zerfetzt auf der Leine im Garten, Zigarettenasche fand sich auf Möbelstücken inmitten der Wohnung, die Bilder waren verrückt. Gerüchte kursierten: Der unliebsame Pastor stehe unter dem Verdacht, sich an Kindern zu vergehen. Im Dorf wusste man nichts Genaues, es fand sich kein Zeuge, aber das Wort war gefallen, der Vorwurf schwer zu entkräften.

Das Ende? Kam es so überraschend, wie alle später meinten? Sahen sie nicht die dunklen Wolken, die sich zusammenzogen vor aller Augen? Ahnten Sie denn nicht, dass Benno Wuttke, der gläubige Christ und streitbare Mann, keinen anderen Ausweg sah, als bis zum Äußersten zu gehen? Den alten Wartburg direkt abzustellen vor der Marienkirche in Steinburg, wenige Minuten, bevor die Glocken läuten würden zu einer Bestattung, dann eine 20-Liter-Kanne mit Benzin hochzuheben, das Benzin über seinen Körper zu gießen und sich anzuzünden. Brennend ein Zeichen zu setzen, ein Fanal. „Ich bin gekommen, ein Feuer zu zünden. Was wollte ich lieber, als dass es schon brennte“, heißt es bei Lukas 12, 49. Die Menge stand auf dem Marktplatz, gaffte. Ein Busfahrer soll sich mit einer Decke auf ihn gestürzt haben, Wuttke lebte noch, sagte: „Lass mich, ich muss gehen.“ Vier Tage später starb er.

Die Geschichte, die hier erzählt wird, ist nicht die des Pfarrers Oskar Brüsewitz (1929-1976), der sich vor mehr als dreißig Jahren auf dem Platz der Michaeliskirche in Zeitz öffentlich verbrannte („Funkspruch an alle ... Die Kirche der DDR klagt den Kommunismus an ...“ stand auf einem seiner zwei Plakate) und dessen Freitod bedeutenden Einfluss auf die Kirche und spätere Oppositionsbewegung in der DDR nahm. Karsten Krampitz’ Novelle „Heimgehen“ erzählt, der Autor betont dies mit Nachdruck, eine frei erfundene Geschichte. Trotz vieler Gemeinsamkeiten und dokumentarischer Anleihen schildert die Erzählung eine fiktive Figur – und diese aus der Perspektive eines Ulrich Schwenke, evangelischer Pfarrer im Ruhestand und verdächtigt, IM (Inoffizieller Mitarbeiter) des MfS (Ministerium für Staatssicherheit der DDR) gewesen zu sein und damit Mitschuld am Tod Wuttkes zu tragen.

Der inzwischen fast 80-jährige Schwenke steht einem Journalisten aus dem Westen gegenüber („Ein vierzigjähriger Lokalredakteur aus Hessen? Mein Herr, da haben Sie es weit gebracht“). Nach anfänglichem Zögern berichtet er, bedächtig, zuweilen altväterlich belehrend, dann jedoch immer detaillierter, von dem, was er weiß, was er sehen wollte, was er in den damaligen Ereignissen zu erkennen glaubt. Er erzählt ohne Gegenfragen, der Journalist bleibt stumm, allein seine beharrende Gegenwart löst den Erzählfluss: eine subjektive, mäandernde Darstellung, durch den Filter der Erinnerung (der Schuld?) gebrochen, authentisch in der Sprache eines zunächst unwilligen, dann dem innerem Drang nachgebenden (sich rechtfertigenden?) Zeit- und Augenzeugen. Die anfänglichen Anekdoten (ein russischer Teppich mit dem Konterfei von Marx, Engels, Lenin wird von Wuttke im Schafstall „entehrt“) treten zurück, eine zentrale Frage schiebt sich in der Vordergrund, die nach der Integrität Schwenkes, die nach der Wahrheit, nach dem damaligen Selbstverständnis der evangelischen Kirche in der DDR.

Karsten Krampitz, der 1969 in Rüdersdorf bei Berlin geboren wurde und 2007 eine Magisterarbeit über Oskar Brüsewitz vorgelegt hat, ist mit dieser „literarischen Gegendarstellung“ eine beeindruckende und vielschichtige Erzählung gelungen. In der doppelten Brechung des Sujets erhält der Monolog über die Lebensgeschichte des Benno Wuttke Eindringlichkeit, Tiefe und sperriges Profil. „Heimgehen“ lässt viele Fragen offen, mit Absicht, die Novelle verunsichert, irritiert. Sie öffnet einen Spalt breit die Tür zu einer Zeit, in der es lebensgefährlich war, sich zu seinem Glauben zu bekennen. Sie schildert einen Alltag, in dem keiner sicher sein konnte, ob das gesprochene Wort galt oder nur Lüge war, Vorwand zum Verrat. Sie handelt von einem mutigen Mann, der sich gegen die kommunistische Bildungspolitik der DDR wandte, der die Militarisierung in den Schulen kritisierte - und den fehlenden Widerstand in der eigenen Kirche.

Die Kirchenleitung stellte sich nicht vor ihn, sondern empfahl ihm, auf weitere „symbolische“ Aktionen zu verzichten, sie bot eine andere Pfarrstelle an, drängte auf Versetzung. Wuttkes Amtsbrüder hatten Angst – wie die anderen, fast alle, in dieser „Diktatur der Lüge“: Sie fürchteten um ihr kleines Glück, die Leute aus Gierschen, aus Steinbach, die Leute nicht nur in der Provinz. Benno Wuttke war anders, er war nicht „geisteskrank“, wie das „Neue Deutschland“ schrieb, er blieb aufrecht bis zum Tod in den Flammen. Hatte er überhaupt eine Wahl? Wolf Biermann nannte die Selbstverbrennung Oskar Brüsewitz’ „Republikflucht in den Tod“, Karsten Krampitz spricht von einer „Republikflucht in den Himmel“ und lässt Pfarrer Schwenke das „Gebet der Wildgeiß“ aus den „Gebeten aus der Arche“ zitieren: „Herr, ... ich bin gesprungen inmitten deiner Schöpfung, über Abgründe hinweg, über den Abgrund meines Herzens, dir in die Arme.“

Hat Schwenke ihn verraten? Spricht er wahr? Karsten Krampe hat zehn Jahre zu Oskar Brüsewitz recherchiert, die meisten Stasi-Akten wurden vernichtet, die wenig verbliebenen erst nach 2006 zur Einsicht freigegeben. Eindeutige Beweise für eine Stasi-Mittäterschaft gibt es nicht, kann es nicht geben, doch sie ist wahrscheinlich, der „IM Nelke“ keine reine Fiktion. Kannte Brüsewitz/Benno Wuttke die Gefahr? Gefährdete er nicht auch die Gemeinde, für die er Verantwortung trug? „Eine jede Auflehnung war erst einmal eine Art Selbstverstümmelung“, sagt Schwenke und: „Heute glaube ich, dass Benno Wuttke mit diesem letzten Schritt, an jenem Mittwoch vor der Marienkirche in Steinburg, vor allem seine Integrität verteidigen wollte. Und damit seine Identität ... Aus heutiger Sicht würde ich manches anders machen – aber nicht anders reden.“

Für seine Novelle „Heimgehen“ erhielt Karsten Krampitz den Publikumspreis beim diesjährigen (2009) Ingeborg-Bachmann-Literaturwettbewerb in Klagenfurt. Eine gute Entscheidung, eine Auszeichnung für ein Buch, das weniger Antworten gibt als Fragen stellt – brennende Fragen, die für den Leser offenbleiben, die bedrängen und verstören: die nach Opfern und Tätern, nach Glaubwürdigkeit, Integrität – und nach unserem Umgang mit Geschichte und Geschichten.

Literaturangabe:

KRAMPITZ, KARSTEN: Heimgehen. Novelle. LangenMüller Verlag, München 2009. 157 S., 16,95 €.

Weblink:

LangenMüller Verlag

 

 

 


Bookmark and Share

BLK mit Google durchsuchen: