Daten werden in Ringe graviert oder auf Kalender notiert. Sie sind kein Bestandteil des romanesken Memorandums, denn Julien Green, der Franzose mit amerikanischen Wurzeln, besinnt sich ohne System zurück an glückliche Tage: „Ich sehe mich allein im Garten der Schule stehen und horchen, wie jemand in der Nachbarschaft einen Teppich ausklopft. Warum ist diese prosaische Erinnerung nach all den Jahren immer noch da, während so viele andere, schönere Dinge vergessen sind?“ Mit dieser Frage scheint Julien Green seinem eigenen Gedächtnis zu misstrauen, aber charakterisiert das Wesen der Erinnerung damit umso trefflicher.
Green führt das menschliche Erinnerungspotential an seinen Ursprung zurück und besteht auf das Kribbeln im Bauch. Dieses wohlige Gefühl beschwört der kleine Julien mittels salbungsvoller Prozessionen oder im Ernstfall auch mit Schwarzer Magie herauf. Man glaubt dem rückblickenden Vierzigjährigen, wie sehr er sich nach dem Hufgetrappel in der Rue de Passy sehnt. Bald ist klar, dass Julien Green seine Leser nicht mit skandalösen Plaudereien und Enthüllungen erfreuen will, sondern bestimmte Momente ins Unendliche dehnen möchte. In den 266 Seiten ereignet sich deshalb aus zwei Gründen nicht viel: Erstens gibt Green mehr auf Stimmungsbilder denn auf Zeitzeugenberichte, zweitens vergisst er vorsätzlich die Hälfte aller Geschehnisse.
Bei Greens Vergesslichkeit handelt es sich aber weniger um die frühzeitige Demenzerkrankung eines Vierzigjährigen als vielmehr um eine bewusste Abblendung belangloser Randerscheinungen. Der Leser glaubt gern, dass Green freimütig erzählt hätte, wie sich die erste Begegnung mit Picasso oder Cocteau zutrug. Aber da ihm Zeit- und Ortdatierungen abhanden kamen, trösten wir uns gern mit stimmungsvoll detailgeladenen Ausschweifungen. So erfährt man ohne Kunstkataloge zu wälzen, wie Cocteaus erste Zeichnung von Green aussah und woraus der Autor seine Romanideen schöpfte. Biografiekonsum ist daher eine Frage von Informationspriorität, die gelegentliche Gedächtnisschwächen tolerieren kann. Für Faktenhungrige liegen glücklicherweise noch einige weitere Tagebücher Greens sowie einschlägige Sekundärliteratur bereit.
Dennoch sei dem Leser Green’scher Autobiografien dasselbe anempfohlen wie zur Lektüre von Simone de Beauvoirs Memoiren: frühzeitig ins entzeitigte Paris abtauchen und keinen Centime für Authentizität oder autobiografische Dichtigkeit entrichten, sondern brillante Erzählungen genießen.
Dass Green ehrlich nichts unterschlagen möchte, bezeugt ein stichpunktartiger Nachtrag, der „wichtige“ Begebenheiten auflistet. Dieser lakonische Exhibitionismus-Nachschlag liefert die adäquate Leseanleitung: Lesen Sie mit Humor und Mut zur Lücke!
Von Stephanie Tölle
Literaturangaben:
GREEN, JULIEN: Erinnerungen an glückliche Tage. München, Carl Hanser Verlag 2008. 272 S., 19,90 €.
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