Werbung

Werbung

Werbung

Keine Verantwortung für niemand?

Wassili Grossman hält der russischen Geschichte einen Spiegel vor

© Die Berliner Literaturkritik, 21.01.11

Wassili Grossman: Alles fließt. Aus dem Russischen von Annelore Nitschke. Mit einem Nachwort von Franziska Thun-Hohenstein. Ullstein Verlag, Berlin 2010. 254 S., 24,95 €, ISBN 978-3550087950.

Von Volker Strebel

Einer der wenigen, die bereits zu Sowjetzeiten nicht zum Schweigen gewillt waren, war der Schriftsteller Wassili Grossman (1905-1964). Gerade Schriftsteller jüdischer Herkunft wie Grossman gehörten zu jenen Intellektuellen, die zwischen 1948 und 1953 von einer Kampagne gegen den „Kosmopolitismus“ drangsaliert worden waren. Nach Stalins Tod war unter dem Schlagwort „Tauwetterperiode“ eine Phase in der Sowjetunion angebrochen, in der 1962 ein Roman wie „Ein Tag im Leben des Iwan Denissowitsch“ von Alexander Solschenizyn erscheinen konnte. Erstmals war offiziell vom Lageralltag erzählt worden. Hunderttausende Lagerhäftlinge waren nach dem legendären XX. Parteitag der KPdSU im Jahr 1956 entlassen worden.

Doch diese politische Periode unter Nikita S. Chruschtschow war widersprüchlich. 1961 beschlagnahmte der sowjetische Geheimdienst KGB das Manuskript von Wassili Grossmans gewaltigem Romanepos „Leben und Schicksal“. Glücklicherweise hatte Grossman eine Kopie retten können. Die vorliegende Novelle „Alles fließt“ widmet sich schonungslos den Geschehnissen in Russland von der Oktoberrevolution bis zur „Tauwetter“-Zeit. Mit großer erzählerischer Kraft gelingt es Grossman, Klarheit in die ideologischen Wirrnisse zu bringen.

Dabei kompiliert er einen erzählerischen Strang mit essayhaften Einwendungen über geschichtliche wie politische Vorgänge in der russischen Geschichte zu einem Epos. Atmosphärisch dicht wird die Geschichte Iwan Grigorjewitschs erzählt, der als Lagerheimkehrer in ein scheinbar neues Leben zurückkehrt. Ein Spannungsbogen baut sich auf, als er seine Vermieterin näher kennen lernt. Die beiden lernen sich lieben und tauschen ihre Erinnerungen an furchtbare Zeiten aus. Anna Sergejewna hatte als jugendliche Kolchosvorsitzende an der Entkulakisierung teilgenommen, als Hunderttausende von Bauern systematisch in den Hungertod getrieben wurden. Voller Reue fragt sie sich: „Trägt wirklich niemand die Verantwortung für all das? Wird man es einfach so spurlos vergessen? Gras drüber?"

Eine Verquickung der erzählenden Teile mit nachdenklichen Einwürfen zur sowjetischen Tragödie wirkt zunächst etwas holzschnittartig, was nicht zuletzt auch damit zusammenhängt, dass Grossman diese Erzählung nicht mehr endgültig überarbeiten konnte. Zugleich verleiht gerade jene Mehrdimensionalität „Alles fließt“ ihren spezifischen Reiz. Grossman hatte mit dieser Erzählung die Schmerzgrenze für das Regime überschritten. Hier tritt kein Leisetreter mit einer abgewogenen Prosa hervor, die vorsichtig den Grad eines möglichen Kompromisses mit der sowjetischen Zensur auszuloten gewillt ist.

Dass nicht mehr Stalin oder dessen „Abweichungen von den leninschen Normen“ die Schuld an den Verbrechen anzulasten sei, stellte eine unerhörte Provokation dar. Schonungslos werden Lenins sektiererischer Fanatismus und seine Grausamkeit beim Namen genannt – ein ungeheuerer Vorgang in jener Zeit. Grossman sieht darüber hinaus eindeutige Verbindungslinien zwischen dem Fanal der leninistischen Revolution und den faschistischen Entwicklungen in Europa: „Nationen und Staaten können sich im Namen der Stärke auch gegen die Freiheit entwickeln!“

Unterstützen Sie dieses Literaturmagazin: Kaufen Sie Ihre Bücher in unserem Online-Buchladen - es geht ganz einfach und ist ab 10 Euro versandkostenfrei! Vielen Dank!

Die Freiheit stellt bei Grossman wie auch bei Iwan Grigorjewitsch, der nach dreißig Jahren Gefängnis und Lager endlich heimkehren kann, einen Schlüsselbegriff dar. Aber wohin kehrt Iwan Grigorjewitsch zurück? Er landet zuerst in Moskau und später auch in Leningrad. Die Schilderung von Iwan Grigorjewitschs Begegnung mit seinem Vetter Nikolaj Andrejewitsch illustriert Grossmans Reflexionen über den Zusammenhang von Opportunismus und moralischer Schuld. Der eine hat in Amt und Würden überlebt, der andere war im Lager. Wie weit geht das Mitläufertum, wie schuldig wird man durch Kompromisse mit einer unmenschlichen Macht? Iwan Grigorjewitschs Rückkehr aus dem Lager in ein Land der Unfreiheit lässt es nicht zu, von einer wirklichen Heimkehr zu sprechen.

Ein kundiges Nachwort von Franziska Thun-Hohenstein gewährt einen Überblick über die angespannte Situation des Autors sowie die abenteuerlichen Umstände der Entstehung dieser Erzählung bis zu ihrer erstmaligen Veröffentlichung.


Bookmark and Share

BLK mit Google durchsuchen: