Von Mathias Schick
Das helle Weiß erinnert an Neuschnee. Weiß wie das unbeschriebene Blatt. Die Farbe des Anfangs. Die Farbe der Unschuld. Rums. „Entzauberte Welt“ steht in festen, dunkelschwarzen Lettern dazwischen. Und, etwas heller, direkt darunter: „Über den Sinn des Lebens in uns selbst“. Es geht ums Ganze.
Ein Philosoph der Naturwissenschaften äußert sich zur wichtigsten Frage im Leben. Ein Philosoph der Naturwissenschaften? Gespannt schlägt man die erste Seite auf und liest ein Zitat Freuds. Wer nach dem Sinn des Lebens frage, heißt es sinngemäß, sei psychisch krank. Verwundert liest man weiter. Und kommt ob seltsam verklausulierter Sätze schnell ins Straucheln. Die „philosophische Krankheit“ mag für Menschen, die in der Fülle ihres Lebens stehen, bedrohlich erscheinen. Glücklicherweise springt die vorliegende Erörterung jedoch in die Bresche und schreibt sich auf die Fahnen, Philosophie gerade auch für solche Menschen verwertbar zu machen. Es gelte, sich „Sinnsuche wenigstens für eine kurze Weile zu leisten“, so wörtlich, „um dann mit mehr Vertrauen und Gelassenheit zur nüchternen Alltagswelt zurückzukehren“.
Der holprige Anfang wäre durchaus geeignet, die weitere Lektüre zu vergällen. Wer aber fortfährt, wird mit kenntnis- und kontrastreichen Reflexionen belohnt. Die exponierenden Betrachtungen zur Bedeutung von „Sinn“ greifen nicht nur auf philosophie- und religionshistorische Positionen zurück. Tolstoi kommt ebenso wie der Marquis de Sade zu Wort, Kant findet sein Komplement in Darwin. Hier sowie in den Folgekapiteln werden geistesgeschichtliche Argumentationslinien immer wieder mit naturwissenschaftlichen Gedanken kurzgeschlossen. Darin liegt die große Stärke des Buches.
Die Lesefreude wird jedoch vom holprigen Schreibstil und den zuweilen ruppigen Übergängen getrübt. Die auf Übersicht bedachte Argumentation hat zugleich etwas Ermüdendes. Bereits auf den ersten Seiten wird klar, welche Position der Autor vertritt. Zwischen ihr und der Gegenposition spielt sich der Hauptdiskurs ab. Viele detaillierte Ausführungen scheinen durch diese Vorwegnahme geradezu überflüssig und wenig mehr als Zierwerk zu sein; die Erörterung verliert erheblich an Spannkraft.
Am Ende angelangt fragt man sich natürlich gerade bei Abhandlungen solcher Thematik, welchen Erkenntnisgewinn sie vermittelt haben. Der geneigte Leser, das ist allgemein bekannt, erhält die Wahrheit nicht auf Rezept. Im Verlauf der Lektüre erhebt sich immer wieder der Wunsch zum Widerspruch. Man wurde vorgewarnt: Der Umschlag des Buches kündigt schließlich „Eine Streitschrift“ an. Der Sinn ist also nicht zu kaufen, auch wenn man dazu in einen Buchladen geht.
Was nun sagt Kanitscheider? Beanspruchten die großen Religionen lange Zeit das Wahrheitsmonopol, so ist heutzutage ein großer Teil der Menschheit selbst für die „richtige“ Beantwortung dieser Frage verantwortlich. Dass das so sein muss und auch ohne Gott befriedigend ist, legt er dar. Der Suchende kann also zu seinem Büchlein greifen. Wenn er jedoch keinen Sinn darin sieht, gibt es noch viele andere Möglichkeiten. Es ist ihm zum Glück freigestellt.
Literaturangabe:
KANITSCHEIDER, BERNULF: Entzauberte Welt. Über den Sinn des Lebens in uns selbst. Eine Streitschrift. S. Hirzel Verlag, Stuttgart 2009. 217 S., 24 €.
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