DÜSSELDORF (BLK) – Im Oktober 2010 ist im Lilienfeld Verlag „Kindheitshefte“ von Norah Lange erschienen. Es wurde aus dem argentinischen Spanisch von Inka Marter übersetzt. Das Nachwort stammt von María Cecilia Barbetta.
Klappentext: Sie hat rote Haare, lacht die Gäste ihrer Eltern aus oder hält auf dem Dach wüste Reden an die Nachbarschaft: 1937 erschienen die autobiographischen Kindheitshefte Norah Langes über die so behütete wie verrückte Kindheit eines außergewöhnlichen Mädchens zum ersten Mal. Nun gibt es diesen Klassiker der nicht weniger außergewöhnlichen Autorin aus dem Umfeld von Borges auch auf deutsch.Das Mädchen, dessen Leben Norah Lange vom 6. bis zum 15. Lebensjahr und zwischen herrschaftlichem Landleben und Verarmung in Buenos Aires in 82 stimmungsvollen Schlaglichtern nachzeichnet, dürfte eine der erstaunlichsten Heldinnen der Literatur Argentiniens sein. Mit der offenen Schilderung der Ängste, Zustände und Wünsche des heranwachsenden Mädchens und seiner besonderen, manchmal unheimlichen, manchmal exzentrischen Erfahrungen konstruierte Norah Lange die Kindheit einer Avantgardeautorin: experimentierfreudig, genau beobachtend, vielschichtig und märchenhaft. In ihren Nachworten spüren die Übersetzerin und Lange-Spezialistin Inka Marter und die argentinische Autorin und Aspekte-Preisträgerin María Cecilia Barbetta der Bedeutung dieses Klassikers und seiner bemerkenswerten Autorin nach.
Norah Lange wurde 1905 als Tochter eines nach Argentinien eingewanderten norwegischen Ingenieurs geboren. Mit Jorge Luis Borges gab sie schon früh Avantgardezeitschriften heraus, 1925 veröffentlichte sie ihren ersten Gedichtband „La calle de la tarde“, dem zwei weitere folgten sowie mehrere Prosawerke. Lange war mit dem argentinischen Dichter Oliverio Girondo verheiratet. Norah Lange galt als „Muse des Ultraismo“ – berühmt waren ihre phantastischen Reden auf Dichterbanketten, die 1942 auch gesammelt herausgegeben wurden („Estimados congéneres“). „Kindheitshefte“ („Cuadernos de infancia“, 1937) gehört zu ihren Meisterwerken. Norah Lange starb 1972.
Leseprobe:
©Lilienfeld Verlag©
Stockend und voller Glück, als würde ich eine Landschaft hinter einem beschlagenen Zugfenster zurückbekommen, taucht die erste Reise, die wir, gerade einmal für eine Nacht unterbrochen, von Buenos Aires nach Mendoza machten, in meiner Erinnerung auf.
Mit Hilfe eines Angstgefühls schafften es meine fünf Jahre, den Abend zu behalten, an dem wir Monte Comán erreichten, um dort eine Nacht zu verbringen und am nächsten Morgen zu unserem Ziel weiterzureisen.
Das Hotel hatte nur wenige Zimmer, und wir alle – meine Eltern, Eduardito, wir fünf Schwestern, die Gouvernante und das Kindermädchen – mußten in drei engen Räumen übernachten, aber weder diese noch irgendeine andere Unbequemlichkeit hätte die Begeisterung mindern können, die das Ereignis in uns auslöste, mit den Erwachsenen im Speisesaal eines Hotels zu Abend zu essen.
In weißen Matrosenkleidern warteten wir fünf Mädchen mit einer solchen Ungeduld darauf, daß es uns schien, als brauchte die Mutter lange, um sich zurechtzumachen, als brauchte das Kindermädchen länger als sonst, um Eduardito ins Bett zu bringen.
Als wir endlich in den Speisesaal eintraten, sahen wir, daß nur ein einziger Tisch von einem Paar besetzt war, und kurz nachdem wir uns gesetzt hatten, hörten wir, wie der Kellner in vertraulichem Ton zu meinem Vater sagte:
„Das ist der Zirkusdirektor in Begleitung der stärksten Frau der Welt. Jeden Abend hebt sie drei Männer mit ihren Zähnen hoch.“
Fünf vor Neugierde aufgerissene Augenpaare hefteten sich gleichzeitig auf das Paar. Da ich mit dem Rücken zu ihnen saß, mußte ich mich umdrehen, um die Frau sehen zu können. Während ich sie betrachtete, glaubte ich wahrzunehmen, daß ihr Körper und ihre Hässlichkeit allmählich anwuchsen, und es war mir unverständlich, wie der Direktor in ihrer Nähe lachen konnte, sie essen sehen und dabei so ruhig bleiben.
Mein Vater, der mir gegenüber saß, befahl mir, mich richtig hinzusetzen, aber bevor ich gehorchte, bemerkte ich, daß die Frau mich anlächelte, und da ich mich nicht traute, das Lächeln zu erwidern, drehte ich mich schnell um und aß weiter.
Ich war nie in einem Zirkus gewesen und konnte mir unmöglich vorstellen, wie eine Frau drei Männer an ihre Zähne hängt. Während ich mich über den Teller beugte, löste allein der Gedanke eine Welle von Angst in mir aus, die mir die Beine hinaufkroch und die ich nicht aufhalten konnte. Ich dachte, daß die Frau vielleicht verärgert wäre, weil ich ihr Lächeln nicht erwidert hatte, und daß sie die erste Gelegenheit nutzen würde, um mich mit ihren Zähnen zu packen. Da ich mit dem Rücken zu ihr saß, konnte ich unmöglich überwachen, ob sie von ihrem Tisch aufstand, um sich an unseren heranzuschleichen. Allmählich und unaufhaltsam nahm das Entsetzen solche Ausmaße an, daß ich die Mutter fast weinend bat, mich neben sie setzen zu dürfen.
Bevor wir in dieser Nacht einschlafen konnten, mussten wir warten, bis mit der Erschöpfung die Gewissheit schwand, daß die Frau aus dem Zirkus ein Zimmer nicht weit von den unseren belegte. Und am nächsten Morgen fuhren wir verteilt auf zwei Breaks – meine Eltern mit Eduardito und dem Kindermädchen in einem, die Gouvernante mit uns fünfen in dem anderen – los in Richtung Nachbardorf.
Nach drei Stunden Ruckelei durchquerten wir einen Bach. Bevor unsere Kutsche zum dunklen Wasser hinunterfuhr, sahen wir mit hilflosen Mienen zum vorderen Wagen, um uns an der Mutter festzuhalten, die uns, über Eduardito gebeugt, nicht aus den Augen ließ, solange das Platschen der Pferde unsere weißen Kleider bespritzte und das Wasser beinahe die Achsen der Räder bedeckte. Aneinandergedrängt versuchten wir uns von unserer Angst abzulenken, indem wir die Hunde streichelten, die sich hinter den Sitzen versteckten. Als wir das andere Ufer erreicht hatten, verspürten wir eine kleine Freude, die fortan immer wieder von Schlammresten ausgelöst werden würde, die von Rädern abfielen, oder vom leichter gewordenen Schritt der Pferde nach dem Überwinden eines morastigen und schwierigen Weges.
Noch bevor es Abend wurde, konnten wir von weitem das alte Haus erkennen, in dem wir uns einrichten sollten, bis das neue fertig gebaut wäre. Ein Ehepaar aus San Luis empfing uns am Gartentor. Die Frau trug ein Kleid mit einer enormen geblümten Schleppe, von dem wir dachten, sie hätte es aus irgendeiner Truhe hervorgeholt, um ihrem Empfang mehr Glanz zu verleihen, das sie aber während der anderthalb Monate, die wir dortblieben, nicht auszog.
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Literaturangabe:
LANGE, NORAH: Kindheitshefte. Aus dem Spanischen übersetzt von Inka Marter. Lilienfeld Verlag, Düsseldorf 2010. 240 S., 19,90 €.
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