Von Johannes Wagemann
Für Literaturwissenschaftler ist es ein unersetzliches Standardwerk, für Studenten mitunter die letzte Rettung vor einer Klausur und für Literaturliebhaber ein wahres Vergnügen: Kindlers Literatur Lexikon. Fast immer hilft ein Blick in das Mammutwerk - bei Goethe oder Mann, Dostojewski oder auch den Erzählungen aus Tausendundeiner Nacht. Am Freitag ist dieses Monument der deutschen Geistesgeschichte in einer dritten, komplett überarbeiteten Auflage erschienen. Und das nach gerade mal fünf Jahren Bearbeitungszeit. 18 Bände (einer davon als Registerband) kommen zeitgleich gedruckt und online heraus.
Allein die Zahlen beeindrucken: Herausgeber Heinz Ludwig Arnold hat 75 Fachberater und 1.600 weitere Mitarbeiter um sich versammelt. Gemeinsam haben der Göttinger Literaturwissenschaftler und sein Team 7.900 Artikel aus dem vorherigen Kindler überarbeitet, 5.900 sind neu geschrieben worden. „Hinter diesen Zahlen steckt ein Lexikon, in dem Leser nicht nur nachschlagen, sondern auch schmökern können sollen, um neue Autoren zu entdecken oder Weltreisen in der Literatur zu unternehmen“, sagt Arnold. Denn das ist ein Verdienst der neuen Auflage: Zwar liegt der Schwerpunkt weiter auf der deutschen und europäischen Literatur, doch haben nun verstärkt afrikanische oder asiatische Werke und Schriftsteller Einzug gehalten. „Und auch bei der amerikanischen fehlte so viel“, betont Herausgeber Arnold.
Zudem geht es nicht mehr nur um die anspruchsvolle Literatur, die „großen“ Werke der jeweiligen Nationalliteraturen vom Format eines Cervantes für Spanien. Es mag auf den ersten Blick verwundern, aber erst jetzt findet etwa einer der erfolgreichsten deutschsprachigen Schriftsteller Eingang in das Standardwerk: der am 1. Januar 2009 verstorbene Johannes Mario Simmel. Zwar nur mit zwei Romanen, doch gelobt werden richtigerweise die aufwendige Komposition seiner Werke sowie der starke Zeitbezug. Simmel habe als „Moralist“ immer wieder etwa an die nationalsozialistische Vergangenheit seines Heimatlandes Österreich erinnert.
Nur eine Minderheit der Autoren freilich lebt heute noch, da unterscheidet sich der Kindler nicht von anderen Literaturlexika. Natürlich gehört Daniel Kehlmann mit seiner „Vermessung der Welt“ dazu, aber auch Joanne K. Rowling mit „Harry Potter“. Arnold empfiehlt ein Abonnement für die Online-Version des Lexikons. „Wir planen, pro Jahr 60 bis 70 neue Artikel dort hinein zu stellen.“ So will er sicherstellen, dass es ein lebendiges Lexikon bleibt.
Das Problem der Auswahl kann kein Lexikon umgehen. Der neue Kindler - bis Ende des Jahres für 1.950 Euro zu haben, danach kostet er 2.400 Euro - hat sich weit geöffnet: Neben Prosa und Lyrik bieten die 18 Bände nun auch literarische Formen, die an der Grenze zu anderen Künsten liegen. So widmet sich ein Artikel Tim und Struppi-Erfinder Hergé, liefert ein Comic dazu und lockert damit die Bleiwüste, die ein Literaturlexikon zwangsläufig darstellt, etwas auf. Das Lexikon hätte sich dann allerdings auch zu Bildern der Autoren oder wichtiger Bucheditionen durchringen können. Schade.
Dennoch kommen die Schriftsteller selbst besser weg als noch früher - neu sind 7.700 „Biogramme“, kurze Überblicke über das Leben der Autoren. So etwa der über Wolfgang Hilbig: „Lehre; Dienst in der Nationalen Volksarmee der DDR, verschiedene Berufe; Lyrik und Erzählungen in Arbeiterliteraturzirkeln; ab 1979 freier Schriftsteller, sein Werk kreist um die Themen Identität und Ich.“ Hilbigs Werk kreist freilich auch um die Realität in den beiden deutschen Staaten und vieles mehr. Aber dennoch: Die Biogramme sind, auch wenn sie staccatohaft daherkommen, ein Vorteil im Vergleich zur ersten und zweiten Auflage des Kindlers. Dort wurden lediglich Geburts- und gegebenenfalls Sterbedatum der Autoren genannt.
Wunderbar auch, dass plötzlich Menschen wie der niederländische Architekt Rem Koolhaas auftauchen - denn auch er hat spannende Bücher veröffentlicht. Überhaupt sind mehr Sachautoren im dritten Kindler vertreten. Albert Einstein gehört genauso dazu wie der französische Postmoderne-Philosoph Jean-François Lyotard. Kennen Sie den? Wenn ja, kennen Sie denn „Cinggis-un yisün örlüg-tei önücin köbegün-ü seceglegsen astir“? Das ist eine mongolische Dschingis-Khan-Dichtung. Es ist wirklich viel zu entdecken im Kindler.
Das wäre ohne einen nicht menschlichen Mitarbeiter nicht möglich - und konsequenterweise bedankt sich Arnold im Vorwort auch beim „Internet“. Denn sonst säße er, sagt der Herausgeber, noch lange an der Revision des 18-Bände-Werks, das der Stuttgarter Metzler-Verlag nun herausgebracht hat. „Wir haben in fünf Jahren rund 80.000 bis 100.000 E-Mails ausgetauscht, nur so konnten wir schnell genug sein.“ (dpa/hel/beh)
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