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„Klage“ – Blog statt Roman

Rainald Goetz’ Internet-Tagebuch

© Die Berliner Literaturkritik, 11.05.09

Von Mirco Drewes

Heimlich, still und leise hat Rainald Goetz, der einstige Skandalautor von „Irre“ (1983) und „Rave“ (1998) statt des lange angekündigten Romans mit „Klage“ die chronologische Sammlung seines einstigen Weblogs für die deutsche Ausgabe der „Vanity Fair“ veröffentlicht. Vom 1. Februar 2007 bis zum 21. Juni 2008 hat Goetz im Internet Tagebuch geführt und in fragmentarischer Form und wandelbarer Textgestaltung Zeugnis abgelegt.

Vor der Veröffentlichung einer Textsammlung, deren digitale Erstpublikation in literarischer Echtzeit in Produktion und Rezeption wesentlich von der Aktualität lebt, stellt sich die Frage, ob ausreichend künstlerische Qualität vorhanden ist, um den situativen Textbezüge eine überzeitliche Bedeutung zuzuweisen. Rainald Goetz und dem Suhrkamp Verlag gegenüber kann dies nur bejaht werden.

In „Klage“ hat sich Goetz sukzessiv auf die Suche nach einer originären Ausdrucksweise gemacht, die der unvermittelten Rezeption der unzähligen Wirklichkeiten, die zusammen die Realität bilden, gerecht wird. Programmatisch scheint dabei festzustehen, dass die biographische Dimension konventioneller Tagebuch-Aufzeichnungen keine adäquate Ebene narrativer Synthese darstellt, um das Mannigfaltige des Lebens, die gesellschaftlichen Diskurse, welche jegliche Eindrücke in vorgefertigten Denkmustern präformieren, künstlerisch abzubilden.

„Klage“ berichtet nicht im Modus eines auktorialen „Ich“, das erlebt und sich in der Wiedergabe mitteilt. Wenn Goetz’ Texte ein „Ich“ kennen, dann nicht als Ausgangspunkt möglicher Erfahrung, sondern maximal als Zielvorgabe ästhetischer Produktion, noch eher als Kristallisationspunkt literarischer Dekonstruktion.

Postmodern ist seine Form in der Auflösung einheitlicher Narration, die sich in unterschiedlichsten literarischen Stilen ausspricht. Denkfragmente, winzige argumentative oder polemische Interventionen zum Erlebten (stellenweise sich zu moralischer Aphoristik aufschwingend, um umgehend wieder zurückgenommen oder heruntergebrochen zu werden) stehen neben lyrischen Elementen. Kunstbetrachtungen und Alltagserlebnisse wechseln sich ab.

Dekonstruierend werden die herrschenden Diskurse perspektivisch durcheinander gemischt. Politische Ansprachen werden hinsichtlich ihres künstlerischen Ausdruckswerts analysiert oder dem subjektiven Empfinden des Betrachters ausgesetzt. In Kunstwerken werden kommunikative oder ethische Qualitäten nachgefragt, in der vermeintlich persönlichen Lyrik drückt sich zumeist in Partizipialkonstruktionen die vollständige Marginalisierung des Subjekts aus.

Die hinter diesem Wechselbalg von Text stehende ästhetische Betrachtungsweise verrät den promovierten Historiker Goetz, der in dem avancierten Autor zu finden ist. Im klassisch griechischen Wortsinn fasst Goetz Ästhetik als den Akt der Wahrnehmung selbst, der möglichst ungefiltert die Barriere der schreibenden Manipulation zu überstehen hat.

Es geht den Phänomenen gegenüber nicht um Schönheit oder Hässlichkeit, sondern um gedankliche Offenheit oder Ignoranz, so ließe sich als Lehre mit aller Vorsicht aus des Literaten Verfahren destillieren. Das ist unverlogen aufklärerisch gedacht und entspricht Goetz’ Anliegen, als Schriftsteller ein Anwalt der ganz und gar nicht banalen „Nettigkeit“ zu sein, die immer auch eine Durchlässigkeit für zukünftige Entwicklungen des Persönlichen impliziert.

Zu diesem Zweck gleicht Goetz Rezeptions- und Produktionsästhetik einander möglichst an. Die paradoxale Bündelung der aktuell sich erschöpfenden fragmentarischen Blog-Beiträge in der Einheit des Buches schafft einen eigenen und ganzheitlichen Werkcharakter.

„Klage“ beschwört auf diese Weise die Notwendigkeit, im Schaffensprozess stets neu ansetzen zu müssen, um durch den Gegensatz von Normativität und Interaktion hindurch zu einem Standpunkt des Selbst zu kommen. Die Trennung von Künstler und Kunstwerk ist marginal und nur vorläufig. An den diagnostischen Texttendenzen zeigt sich der Mediziner Goetz, der über Jugendpsychologie promoviert hat.

Immer wieder offenbaren sich seine Textbeschreibungen sozialer und medialer Wirklichkeit als Sektionen pathologischer Sozietät und gefährdeter Individuation. Diese feinsinnigen Analysen im Subtext kreisen um die Agonie der gesellschaftlichen Verwertungs-Mechanismen des 21. Jahrhunderts und des Subjekts als Solitärs. Unhintergehbar bleibt das cogito als schöpferisches Prinzip, manchmal auch als solipsistische Bastion.

Rainald Goetz ist seinem Thema, der gesellschaftlichen Isolation im Zeitalter des „anything goes“ im medialen Panoptikum, treu geblieben. „Klage“ stellt ein literarisches Experiment dar, ein Werk, das im Entstehen sichtbar wird und in seinem Verfahren zu einer literarischen Form gelangt, die dem künstlerischen Programm kongenial korrespondiert.

Ein Werk auch, das in der Mimesis des augenblickhaften Lebens und Erlebens im spezifischen Augenblick eine wirkliche und wirkungsvolle Phänomenologie postmoderner Realität schafft, die in der Form des Romans nur schwer erreichbar gewesen wäre.


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