Der berühmte Kunsthistoriker Ernst Gombrich (1909-2001), dessen ebenso kursorische wie entschieden subjektive „Geschichte der Kunst“ zum Welterfolg wurde, hatte eine unbezwingliche pädagogische Neigung. Die Menschen sollten von den Bildern lernen, auf mehr zu achten als das Bildthema. Darum hat er 1996 gern die Einladung der Londoner National Gallery angenommen, in einer Sonderausstellung Bilder zusammenzustellen, an denen ihm besonders liegt. Normalerweise wurden zu solchen kleinen hauseigenen „Events“, lebende Künstler und nicht Wissenschaftler eingeladen, Gombrich hat diese Aufforderung als Ehre verstanden.
Er hat ein Thema gewählt, dass sich aus den Beständen des Museums „illustrieren“ ließ: die Darstellung von „Schatten“ in der abendländischen Kunst. Als Handreichung dient das Büchlein, in dem er seine Überlegungen zum Thema an die Leser weitergibt. Es ist ja in der Tat nicht selbstverständlich, dass auf Gemälden, Zeichnungen, Stichen auch die Schatten dargestellt werden, und wenn sind es die auf den Gegenständen selbst, die sich auf diesen an der dem Licht abgewandten Seite bilden, oder jene „Halbschatten“, wo der direkte Lichteinfall schwächer wird. Harte „Schlagschatten“, die ein Objekt außerhalb seiner selbst bildet, um die oft unsichtbare Lichtquelle genau zu definieren, sind eher selten.
Allen drei Formen des Schattens widmet er, unterstützt von Abbildungen (schwarzweiß im Text, farbig im Anhang) seine Erklärungen, wobei er sich fast ausschließlich auf die handwerkliche Seite der Herstellung von Schatten mit Pinsel und Griffel beschränkt. Warum der besonders prägnante Schlagschatten in vielen Kunstepochen gar nicht auftaucht, als hätten die Künstler ihn so verkauft, wie Peter Schlemihl den seinen an den Teufel in Chamissos Erzählung, das bleibt unerörtert, es sei denn, man nähme die tragische Volte des Dichters für eine ausreichende Erklärung: Gegenstände, Figuren, Menschen, die keinen Schatten werfen, sind nicht „wirklich“, sind selbst nur Schatten wie die in Platons „Höhlengleichnis“, in dem sich die Außenwelt nur als Schattenriss auf der Höhlenwand abbildet, die, die ihn sehen, wissen nicht, wie es in der äußeren, der wirklichen Welt, wirklich aussieht. In den meisten Kunstepochen (Gombrich erwähnt etwa die Malerei der Chinesen), ist eben nicht die erkennbare äußere Wirklichkeit das entscheidende Thema. Das Bild ist „erfunden“, hat seine eigene, autonome Wirklichkeit, auch wenn diese sich auf Objekte bezieht, die wir wiedererkennen.
Erst als die Maler diese äußere Wirklichkeit getreu (naturalistisch kann man es nennen) abbilden wollen, gehören die Schlagschatten dazu. In der Renaissance und im Barock machen die Maler, von Fra Angelico bis Caravaggio gerade aus der verflixt komplizierten künstlerischen Aufgabe, einen solchen Schlagschatten perspektivisch richtig zu malen, eine fast sportliche Disziplin. Was wiederum dazu führt, dass die Bilder eben nicht „naturalistisch“ sind. Sie erwecken allenfalls den Anschein. Vorher und nachher sind die Künstler daran nicht vital interessiert, sie arbeiten sich allenfalls an den Schatten auf den Gegenständen selbst ab, benutzen das berühmte „sfumato“, jene fließenden Übergang von einer hellen zu einer weniger hellen Partie des Bildes, das die Umrißlinien weicher macht zur Herstellung der plastischen Illusion in der zweidimensionalen Fläche dient.
Von einer metaphysischen oder psychologischen Deutung der Schlagschatten hält der Warburg-Schüler sich erstaunlicherweise fern, der Hinweis auf die andere Haltung gegenüber der „Wirklichkeit“ ist für ihn ausreichend. Er will das Sehen schulen, also hält er sich an das Offensichtliche, er will uns aufmerksamer machen, auch für die handwerklichen Probleme der Schattenmalerei, die später — im 18.Jahrhundert — im mittels optischer Hilfsmittel hergestellten „Schattenriss“ noch einmal Mode wurde. Man sieht nach Gombrichs Lektion ein bisschen genauer hin, auch wenn man nicht jedes Bild auf Schatten untersucht, die darauf vielleicht zu finden sind.
Literaturangabe:
GOMBRICH, ERNST: Schatten. Ihre Darstellung in der abendländischen Kunst. Verlag Klaus Wagenbach (Salto), Berlin 2009. 93 S., Leinen, 15,90 €.
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