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Knallhartes Debüt

Helene Hegemanns „Axolotl Roadkill“

© Die Berliner Literaturkritik, 26.01.10

Berlin (BLK) – Helene Hegemann wird seit erscheinen ihres Debütroman „Axolotl Roadkill“ als neues Wunderkind gefeiert. Ihren furiosen Erstling veröffentlichte der Ullstein Verlag.

Klappentext: „Schreckliche Leben sind der größte Glücksfall“, schreibt die 16jährige Mifti in ihr Tagebuch. Seit dem Tod ihrer Mutter lebt sie in Berlin, und als „pseudo-belastungsgestörte“' Problemkind durchläuft sie nach “Jahren der Duldungsstarre“ gerade eine extrem negative Entwicklung. Obwohl intelligent und gut situiert, nimmt sie Drogen, verweigert die Schule und hat sogar Argumente dafür. Anstatt sich an Konventionen abzuarbeiten hinterfragt und analysiert sie nämlich permanent die gesellschaftliche Situation, in der sie sich befindet. Sie wohnt bei ihren wohlstandsverwahrlosten Halbgeschwistern und ihr Vater steckt noch immer in seiner frühkindlichen Allmachtsphase. Freiheit und Selbstzerstörung fallen zusammen und Mifti entlarvt in ihren von Wahn und Genie geprägten Zwischenwelten Sprache, Lebensentwürfe und Vorgegebenheiten der Erwachsenen. Sie kokettiert mit ihrer Kaputtheit und sucht im „allgemeinen Dahinschimmeln“ nach einem Zugriff auf ihr eigenes Leben. Der siebzehnjährigen Helene Hegemann ist ein sprachmächtiges, kluges Debüt über einen Zustand gelungen, in dem Traum, Alptraum und knallharte Realität nicht mehr voneinander zu unterscheiden sind.

Helene Hegemann wurde 1992 in Freiburg geboren, und lebt zur Zeit in Berlin. Sie schrieb bereits ein Theaterstück mit dem Titel „Ariel 15“, welches 2007 im Ballhaus Ost in Berlin uraufgeführt wurde. Des weiteren debütierte sie im Oktober 2008 als Drehbuchautorin und Regisseurin mit dem Film „Torpedo“, wofür sie mit dem Max-Ophüls-Preis ausgezeichnet wurde. „Torpedo“ lief im Sommer 2009 bundesweit in den deutschen Kinos.

Leseprobe:

©Ullstein Verlag©

 

Annika sitzt gemeinsam mit ihrer High-Definition-Mascara am Küchentisch und guckt mich an, als hätte sich meine Dünnhäutigkeit innerhalb kürzester Zeit zu einer nicht mehr nachvollziehbaren Skrupellosigkeit entwickelt.

„Ich muss nicht mehr in die Schule, Annika.“

„Das ist jetzt das Ende.“

„Ja, das ist wirklich das Ende. Draußen sind alle ohnmächtig.“

„Das glaube ich dir nicht.“

„Es ist total egal, ob du mir glaubst oder nicht. Draußen sind alle ohnmächtig.“

Sie guckt sich paranoid um.

„Atomkrieg?“

„Chemieangriff?“

„Mach das Fenster zu, Mifti.“

„Zu spät.“

Annika wird ohnmächtig, ich falle um. Jeder von uns denkt, er sei der alleinige Simulant. Das ist ungemein sexy.

Ja, da waren wir auch den Tränen ein bisschen nahe, und das muss ich auch ganz offen zugeben, auch wenn man bei mir das jetzt nicht oft gesehen hat, aber wenn es diese Momente gibt, in denen man den Tränen nahe ist, dann war das da schon einer davon, also da waren wir alle echt den Tränen nahe.

Um 8 Uhr 10 steht Lars gemeinsam mit seinem zweijährigen Scheißblag und einer unübertrefflichen Erwartungshaltung in unserem Wohnungsflur. Das zweijährige Scheißblag trägt einen weißen Häkelponcho aus Chile, wurde nie in seiner Entscheidungsfreiheit eingeschränkt und hat deswegen innerhalb von zwanzig Sekunden zuerst eine komplette Packung Nordseekrabben aus unserem Kühlschrank geholt und den Inhalt derselbigen dann auch auf der Stelle aufgefressen.

Lars hat drei Jahre lang Graphikdesign in London studiert und ist Veganer.

 

Intimacy

 

Als Lars, unser Nachbar, Graphikdesign in London studiert hat, fotographierte er im Rahmen des Projekts Intimacy Muscheln von innen und begründete diese zugegebenermaßen beschissene Idee damit, dass der Innenraum einer Muschel viel mit der Anatomie und dem Muskelaufbau des Menschen zu tun habe und so.

 

Mifti (schockiert): „Bitte?“

Lars: „Nein, ich habe das dann halt damit begründet, dass eine Muschel von innen… Ich weiß auch nicht so genau, die Struktur vom Inneren einer Muschel hat was total Intimes.“

Mifti: „Und das hast du abgegeben? Das ist wirklich ziemlich große Scheiße!“

Lars: „Der Typ hat auch gedacht, ich hätte ihn verarscht, krass oder?“

Mifti: „Du kannst als deutscher Veganer mit überdurchschnittlich großen Ohrlöchern keine Muscheln abgeben, wenn du in London Graphikdesign studierst.“

Lars: „Was hättest du denn abgegeben?“

Mifti:“ Keine Ahnung, ich hätte wahrscheinlich Filmstills aus Intimacy abfotographiert.“

Lars: „Nein, jetzt sag mal ehrlich.“

Mifti: „Ich hätte Haut fotographiert. Ich hätte einen ganzen 35- mm-Film mit Hautunreinheiten abgegeben. Oder Intimpiercings.“

Lars: „Jetzt sag mal bitte ganz ehrlich, was du abgegeben hättest!“

Mifti: „Wer wurde denn am überschwänglichsten gelobt bei dem Projekt?“

Lars: „So eine Taiwanesin, die blutende Füße und ein Telefon und so eine Scheiße fotographiert hat und irgendwelche Poster, die an Wänden hingen. Und sie hat gesagt, dass sie Nebenschauplätze nachgestellt hat, weil die Nebenschauplätze sind irgendwie das, wodurch sich intime Situationen am prägnantesten einprägen, und die hat sie halt nachgestellt.“

Mifti: „Ich hätte die Seiten aus dem Fotoalbum meiner Oma fotographiert, aus denen meine Mutter Kinderfotos von sich geklaut hat. Du siehst die Seiten und dass da mal was war und dass da Fotos geklaut wurden, von meiner Mutter, die tot ist. Niemand

weiß, wo diese Fotos sind. Ich finde, etwas Intimeres gibt es nicht.“

 

Die soziale Lüge

 

Wenn ich lüge, dann neurotisch und zwanghaft. Meine Lügen ergeben sich aus einer Abhängigkeit von metaphysischen Begebenheiten. Wenn Annika lügt, sollen ihre Lügen dem Wohl der Belogenen dienen oder der Harmonie der Gruppe oder zumindest ihrer Leistungsmotivation. Davon ist sie fest überzeugt.

 

Lars: „Ja, das tut mir jetzt natürlich auch total leid dass wir euch stören hier, aber das ist echt scheiße ohne Playstation an so einem Scheißtag.“

Mifti (wirft mit einer lässigen Geste die Haare zurück): „Kein Ding, Lars! Ich bin aber auch nicht durchgekommen durch dieses Spiel da, ich weiß nicht, zuerst habe ich dann sechshundert Zombies pro Minute abgeballert, aber das Schlimme war dann später, dass da irgendwann dieses Seeungeheuer kam mit dem Ding im Rücken, und ich habe das mit dem Anker nicht getroffen.“

Lars: „Das ist kein Anker, sondern eine Harpune!“

Mifti: „Ich glaube, das ist ein Anker, weil der Typ ja spontan war und gerade keine Harpune zur Hand hatte auf dem Ruderboot und dann diesen Anker in die zu Flossen umgestalteten Vorderextremitäten des großen Fisches rammen sollte, aber das hab ich dann halt nicht hingekriegt.“

Lars: „Wahrscheinlich, weil man da am Anfang den Hund befreien musste aus dieser Bärenfalle und du das nicht gemacht hast. Mir ist der Hund bei der Geschichte mit dem großen Raubfisch später zu Hilfe gekommen, weil ich ihn da im ersten Level gerettet habe.“

Mifti: „Dieser Scheißhund? Scheiße!“

Lars: „Ja, scheiße.“

Mifti: „Wie scheiße. Was für eine Scheiße das ist, oder? Dass man da mit gedrückter B-Taste Menschen abknallt, und sich im Endeffekt alles nur noch um einen weißen Bernhardiner-Grönlandhund-Mischling dreht.“

Annika: „Was führt ihr hier gerade für einen außerirdischen Dialog, Kinder?“

 

©Ullstein Verlag©

 

Literaturangabe:

HEGEMANN, HELENE: Axolotl Roadkill. Ullstein Verlag, Berlin 2009. 208 S. , 14,95 €.

Weblink:

Ullstein Verlag


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