ZÜRICH (BLK) – „Flügelschlag des Schmetterlings“ erschien bereits im Juli 2009 im Unionsverlag. Alice Grünfelder publizierte hierin Texte tibetischer Autoren und Autorinnen, die über ihre Zerrissenheit zwischen China und dem, nach Autonomie strebenden, Tibet schrieben.
Klappentext: Das Unbehagen in der eigenen und fremden Kultur macht die Tibeter im mehrfachen Sinne zu Nomaden des 21. Jahrhunderts. Zum ersten Mal versammelt dieser Band vielfältige und kontroverse Texte von tibetischen Autorinnen und Autoren der jüngeren Generation aus Tibet und dem Exil. Der Protagonist in Alais Erzählung Blutsbande hat einen chinesischen Großvater und einen tibetischen Vater; als er mit chinesischem und tibetischem Namen gerufen wird, zerreißt es ihm fast das Herz. In Ralo von Tsering Döndrub begegnen wir einem haltlosen jungen Mann, der seine Umwelt nicht versteht. Während in Tibet lebende Schriftsteller Kritik subtil oder verfremdet in ihre Texte einfließen lassen, artikuliert der Exil - Tibeter Palden Gyal ganz unverblümt die Ungerechtigkeiten, die während der Kulturrevolution geschahen. Umso mehr erstaunen die persönlichen Eingeständnisse von Exilanten, die wieder die Annäherung an Tibet suchen. Mit Texten von Alai, Jamyang Norbu, Tsering Öser, Tenzin Tsundue und vielen anderen.
Wer hätte besser eine Auswahl über die Sicht einzelner Autoren bezüglich der Tibet-China-Krise treffen können, wenn nicht Alice Grünfelder? Verbrachte sie doch schließlich zwei Jahre als Stipendiatin in Chengdu, der Provinz Sichuan in China und unternahm zahlreiche Reisen nach Tibet, wo sie unter anderem als Dolmetscherin tätig wurde. Nach ihrem Aufenthalt schloss sie ihre Magisterarbeit bezüglich neuerer tibetischer Literatur ab und kehrte 1999 nach Berlin zurück, um dort eine Agentur für Literatur in Asien zu gründen. Bereits 1997 thematisierte Alice Grünfelder, respektive Erzähler aus Tibet, in „An den Lederriemen geknotete Seele“ ein Panorama der rätselhaften Tibeter und ihrer Glaubenswelt. „Flügelschlag des Schmetterlings“ skizziert ebenfalls kulturelle Gegebenheiten, offeriert jedoch insbesondere persönliche Empfindungen, mit Fokus auf den anhaltenden politischen Spannungen.(ros)
Leseprobe:
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Am Abend unterhielt sich die ganze Familie darüber, ob ich in die Schule gehen sollte. Früher konnten nur Mönche und Lamas lesen. Die Männer im Dorf waren ins nächste Kloster gegangen, wo auch mein Onkel ein eher unbedeutender Mönch gewesen war. Mein Vater war ein ehrlicher Mann. Und ehrliche Menschen sagen immer geradeheraus, was ihnen auf der Zunge liegt. „Warum sollen unsere Kinder eigentlich Chinesisch lernen und nicht Tibetisch?“ Gutmütig, wie er war, schaute er Großvater an, der schwer schluckte. „Tibetisch? Was kann man denn mit Tibetisch schon anfangen?“, fragte mein Großvater. „Und was mit Chinesisch?“ Diese Frage ließ ihn verstummen. Vielleicht ging ihm durch den Kopf, was er gelernt und was es ihm gebracht hatte. Den offenen und fragenden Blick seines Sohnes empfand er jedoch als Unverschämtheit, er beleidigte ihn und diese großartige Sprache. Großvaters Hals wurde auf einmal ganz steif, als er sagte: „Damit gehörst du zu den Leuten da oben!“ Die Familie lachte leise, und mein Vater murmelte: „Die da oben? Wenn man Tibetisch lernt und Lama wird, gehört man doch auch zu denen.“ „Du sollst in eine chinesische Schule gehen“. Großvater strich mir über den Kopf. „Wir müssen dir noch einen Namen geben“. „Ist Dorje denn kein Name?“ „Das ist ein Vorname. Er hat keinen Nachnamen, und ohne Nachnamen gibt es auch keinen richtigen Vornamen, oder?“ mein Vater sah, dass die Adern an Großvaters Schläfen bedrohlich anschwollen, blieb er lieber still. Dem Großvater konnte man einfach nichts recht machen. „Ich geb dir einen chinesischen Namen, damit wirst du reich“, sagte er und schaute dabei jedem ins Gesicht. Doch alle wichen seinem Blick aus. Schließlich wandte er sich zu mir und legte mir die Hand auf den Kopf, als ob er mich wie ein Tulku segnen wolle. Innerhalb eines Augenblicks verwandelte sich sein milder, zärtlicher Blick in einen strengen: „Hör, ich werde dir jetzt einen neuen Namen geben. Einen Namen, mit dem du in die Schule gehen kannst“. Mein Großvater streckte die Brust heraus, zog seinen Bauch ein und sagte mit feierlicher und zugleich warmer Stimme: „Yawei“. Für einen Augenblick war ich wie benommen. „Yawei!“, rief mein Großvater noch einmal. Erst da wurde mir klar, dass dies mein neuer Name sein sollte. Für jemanden, der kein Chinesisch verstand und dessen Ohren diese Sprache noch nie gehört hatten, waren diese tiefen und kurzen Silben völlig bedeutungslos und klangen seltsam. Deshalb konnte ich noch immer nicht antworten. Da rief mich meine Großmutter: „Dorje“. So streng wie die Stimme meines Großvaters klang, so zärtlich klang die ihrige. Später sollte mich nie mehr jemand so liebevoll bei meinem Namen nennen, nicht einmal eine Frau. Blicke der beiden alten Leute waren fest auf meine Lippen gerichtet. Die Wut in ihren Augen verwandelte sich zuerst in einen Hoffnungsschimmer, wich dann aber einer Enttäuschung. Ich war damals sechs Jahre alt und spürte den Schmerz meines Körpers, der in zwei Richtungen gerissen wurde.
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Literaturangabe:
GRÜNFELDER, ALICE: Flügelschlag des Schmetterlings. Unionsverlag, Zürich 2009. 252 S., 16,90 €.
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