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Konzentrierte, formal perfekte Studien

Deborah Eisenbergs Erzählband „Rache der Dinosaurier“

© Die Berliner Literaturkritik, 15.05.08

 

MÜNCHEN (BLK) – Deborah Eisenbergs Erzählband „Rache der Dinosaurier“ ist im März im Carl Hanser Verlag erschienen.

Klappentext: Mit genauem und doch zärtlichem Blick beschreibt die in New York lebende Deborah Eisenberg eine amerikanische Realität, die zunehmend chaotischer, brutaler und unkontrollierbarer geworden ist. „Dämmerung der Superhelden“ erzählt im Rückblick von einer Freundesgruppe im extravaganten, glitzernden Manhattan zu Beginn des neuen Jahrtausends, und erst allmählich begreift man, dass das, was die jungen Leute von ihrem luxuriösen Penthouse aus beobachten, die Attacke vom 11. September ist. Andere Geschichten beschreiben Misfits, Begegnungen von Kindern und Kindeskindern und auseinanderdriftende Familien, in denen manchmal schon ein falsches Wort genügt, um alte Ressentiments wiederaufflammen zu lassen. Konzentrierte, formal perfekte Studien von Deborah Eisenberg – einer Meisterin der amerikanischen Kurzgeschichte.

Deborah Eisenberg: 1945 in Chicago/USA geboren; Studium des Lateinischen, Griechischen und der Anthropologie; Lehrtätigkeit als Professorin für Creative Writing an der University of Virginia Freie; Journalistin, schreibt Erzählungen und Kurzgeschichten. Die Autorin lebt in New York. (car/wip)

 

Leseprobe:

© Carl Hanser Verlag ©

Ein anderer, besserer Otto

 

„Ich weiß nicht, warum ich uns das alles aufgebürdet habe“, sagte Otto. „Viel lieber würde ich arbeiten oder lesen, und du wirst diese Woche soviel Zeit wie möglich zum Üben brauchen.“

„Ist schon in Ordnung“, sagte William. „Mit Sharon treffe ich mich immer gern. Und wir überleben auch einen Abend mit deiner –“

Otto zuckte leicht zusammen.

„Doch, doch, keine Sorge“, sagte William. „Und willst du nicht Naomi, Margaret und das Baby sehen, sobald sie zurück sind?“

„Alle sagen immer: ‚Willst du nicht das Baby sehen, willst du nicht das Baby sehen’, aber wenn ich ein verwirrtes, kahlköpfiges Dickerchen sehen wollte, bräuchte ich nur in den Spiegel zu schauen.“

„Ich habe heute morgen einen bemerkenswerten Artikel über Depression zur Urlaubszeit gelesen“, sagte William. „Soll ich ihn dir ausschneiden? Die Statistiken waren erstaunlich.“

„Die Statistiken können nicht erstaunlich gewesen sein, der Artikel war bestimmt nicht bemerkenswert, und ich bin nicht deprimiert. Ich bin einfach zu Tode gelangweilt von diesen dämlichen … Strecken wir mal die Fühlerchen aus, geben uns die Pfötchen als Zeichen für … Ach, was soll’s? Warum habe ich mich nur darauf eingelassen?“

„Tja“, sagte William. „So macht man das nun mal.“

 

Hmm. Das stimmte. Es stimmte ebenfalls, dass auch er Sharon irgendwie sehen wollte; dass auch er Naomi, Margaret und das Baby so bald wie möglich sehen wollte. Und schließlich war er selbst es gewesen, der zugesagt hatte, Thanksgiving mit seiner Familie zu verbringen. Zu sagen, er selbst sei es gewesen, der sie hatte treffen wollen, strapazierte zwar bestimmte Begriffe, etwa den des „Selbst“ oder den des „Wollens“, und doch musste es eine unausgesprochene, noch unwillkommenere Alternative zu diesem Treffen gegeben haben, sonst hätte er wohl nicht zugesagt.

Er hatte – wie lange? – Jahre und Jahrzehnte gebraucht, um zu einem Grad wenn nicht vollständiger, so doch alltagstauglicher Entfremdung von seiner Familie zu gelangen. Das war, wie er William einmal erklärt hatte, zweifelsohne auch die Ursache dafür, dass er mit den Jahrzehnten so leicht erregbar geworden war und so schnell erschöpft. Die ständige Anstrengung und die unbewusste Konzentration, die es erforderte, sich dem hartnäckigen Klammergriff zu entziehen, reichten aus, einen zu zermürben und dauerhaft von den wirklich wesentlichen Dingen fernzuhalten.

Hochzeiten wurden ganz gestrichen, Geburtstage waren höchstens noch einen Anruf wert, und an Weihnachten verschickten Otto und William großzügig gefüllte Körbe mit nichtsaisonalem Obst, worauf verschnupfte kleine Dankesbriefe eintrafen. Von Mitte Dezember bis Mitte Januar entfernten sich die beiden nicht nur aus der gefährlichen Nähe von Ottos Familie, sondern lieber gleich aus dem Land, um sich unter sonnigem Himmel in blauen Gewässern zu tummeln.

Als seine Mutter starb, überkam Otto eine belebende Melancholie; die meisten der qualvollen Treffen und Verpflichtungen lagen fortan hinter ihm. Das Leben in seiner launigen Theatralik hatte mit einer einzigen Geste gegeben und genommen, und auf einmal befand er sich in einer Position, für die er sich ohnehin geboren fühlte: Er war allein auf der Welt.

Zumindest mit William allein auf der Welt. Seinen Geschwistern Corinne, Martin und Sharon vorausmarschierend, stand er jetzt an vorderster Front, Kanonenfutter für den Tod und so weiter; über Nacht war er alt geworden – und frei.

Alt und frei! Alt und frei …

Trotzdem war er gern bereit, mit anwaltlichem Rat auszuhelfen oder einem Kind oder Neffen einen Platz für ein Praktikum im Sommer zu besorgen. Von Zeit zu Zeit traf er Sharon. Von Zeit zu Zeit gab es Anrufe: „Natürlich bist du zu beschäftigt, aber …“, „Natürlich interessiert dich das nicht, aber …“, begannen sie. Das war das einzige, worüber sich Corinne und ihr Mann sowie Martin und seine jeweilige Frau immer einig waren: dass Otto, ungeachtet der offenkundigen Beweise des Gegenteils, zu finden schien, er sei zu gut für sie.

Aber wer war hier in Wahrheit zu gut für wen? Oft lief es auf ein Kräftemessen hinaus. Als Corinne vor ungefähr einer Woche wegen Thanksgiving angerufen hatte, hatte Otto in der ersten Panik gesagt: „Wir bekommen leider selbst Besuch.“

Corinnes Schweigen glich einem Spiegel, der ihm seine harmlose Notlüge in riesiger Vergrößerung zurückwarf, samt klebrigen Härchen und Mikroben darauf.

„Gut, ich schaue mal, was ich tun kann“, sagte er.

„Bitte versuch’s“, sagte Corinne. Der Satz hatte die unangreifbare Autorität eines Warnschilds, das jäh hinter einer Kurve auftaucht: ACHTUNG STEINSCHLAG. „Otto, die Kinder werden erwachsen.“

„Kinder! Welche Kinder? Deine Kinder sind seit Jahren erwachsen, Corinne. Deine Kinder sind alt, wie wir.“

„Ich meine natürlich Martins Kinder. Die neuen. Die von Martin und Laura. Und Portia ist doch auch noch da.“

Portia? Ach ja. Das kleine Mädchen. Das, dem Himmel sei Dank, einzige Produkt von Martins Ehe mit dieser verrückten Viola.

„Ich schaue, was ich tun kann“, sagte Otto noch einmal, nunmehr weniger zaghaft. Corinne war selbst schuld. Ein sensiblerer Mensch hätte ein Kärtchen geschrieben oder eine E-Mail – oder hätte ihm eine Nachricht im Büro hinterlassen, damit er das Gesicht wahren und sich irgend etwas wirklich Abschreckendes hätte ausdenken können statt der ungezielten Wortsalven, die er unter direktem Beschuss abzugeben gezwungen war.

„Wesley und ich feiern diesmal in der Stadt“, sagte Corinne. „Es ist nicht nötig, dass ihr den ganzen Weg zu uns in die Pampa rauskommt. Ein paar Stunden, dann ist alles vorbei. Im Ernst, Otto, du gehörst einfach dazu. Wir halten es ganz schlicht dieses Jahr.“

„‚Dieses Jahr’? Corinne, es gab nie andere Jahre. Ihr feiert doch gar nicht Thanksgiving.“

„Das tun wir sehr wohl, Otto. Und früher haben wir es alle gefeiert.“

„Wer?“

„Wir alle.“

„Niemals. Wann denn? Kannst du dir von Mutter vorstellen, dass sie je für irgend etwas dankbar war?“

„Als Vater noch lebte, haben wir immer Thanksgiving gefeiert.“

„Daran erinnere ich mich nicht.“

„Ich aber. Ich erinnere mich, und Martin auch.“

„Martin war vier, als Vater starb!“

„Aber du warst auch noch klein.“

„Ich war doppelt so alt wie Martin.“

„Ach, Otto – ehrlich gesagt, ich bin manchmal einfach traurig. Du nicht? Das Leben vergeht so schnell. Ich möchte nur alle Schaltjahre mal die Familie in einem Raum versammelt sehen. Ich will alle wohlauf und glücklich sehen. Ich meine, du, Martin und Sharon, ihr wart meine Geschwister. War da nicht mal irgendwas? Erinnerst du dich nicht? Wie wir immer miteinander gespielt haben?“

„Ich erinnere mich nur daran, dass Martin sich ständig erbrochen hat.“

„Du wirst doch nett zu ihm sein, oder, Otto? Er ist immer noch sehr empfindlich. Über den Prozess wird er nicht reden wollen.“

„Hast du mit Sharon gesprochen?“

„Nun, darüber wollte ich mich eigentlich mit dir unterhalten. Ich fürchte, ich hab sie beleidigt. Ich habe betont, dass dieses Jahr nur wir zusammenkommen sollten. Keine Tanten und Onkel, keine Cousins und Cousinen, keine Freunde. Nur wir. Und Ehemänner und Ehefrauen. Ehemann. Und Ehefrau. Oder was auch immer. Und die Kinder natürlich, aber da stellte sie ziemlich die Stacheln auf.“

„Angenommen, William fällt unter ‚was auch immer’“, sagte Otto, „warum sollte dann Sharon keinen Freund mitbringen, wenn sie möchte?“

„William gehört zur Familie. Und du erinnerst dich bestimmt, wie sie an Weihnachten diese Person mitgebracht hat! Die mit den Füßen? Mir wäre es lieb, wenn du in den nächsten Tagen mal bei ihr vorbeigehen und mit ihr reden könntest. Auf dich scheint sie ja zu hören.“

Otto angelte sich eine Zeitschrift vom Fußboden – eines der populären Wissenschaftsmagazine, die William immer herumliegen ließ – und schlug sie zerstreut auf.

„Wesley und ich bemühen uns, auf sie zuzugehen“, sagte Corinne. „Martin auch, aber sie reagiert nicht. Ich weiß, der Umgang mit Menschen fällt ihr manchmal schwer, aber wir sind nicht irgendwelche Menschen – wir sind ihre Familie.“

„Das ist ihr bestimmt klar, Corinne.“

„Ich hoffe, dir auch, Otto.“

Wie deutlich er seine kleine Schwester – nunmehr in den Fünfzigern – vor sich sehen konnte, die betrübte, ängstliche Miene der einst Sechsjährigen längst tief ins Gesicht gekerbt.

„Jedenfalls“, sagte sie, „habe ich angerufen.“

 

Und doch war etwas dran an dem, was Corinne gesagt hatte; als Kinder hatte jeder für die anderen die Umwelt bedeutet. Die Distanz zwischen ihnen war zwar in jeder entscheidende Hinsicht genauso groß gewesen wie heute, aber Nähe hatten sie auch zu anderen nicht aufgebaut, es gab niemanden, mit dessen Hilfe sie die geheimnisvollen Abgründe, Defizite und Sehnsüchte in sich hätten ausloten oder erhellen können. Sie waren dem öden Chaos ihres jeweiligen Benehmens, dem guten wie dem schlechten, ausgeliefert, ihren Masern, aufgeschürften Knien und Schulzeugnissen.

Eine kahle, chaotische Szenerie. Vielleicht hatte das Leben der letzten Dinosaurier, als sie verwirrt und bekümmert über den vom Kometen versengten Planeten wanderten, dieser Kindheit geähnelt. Jedenfalls war sie bestimmt nicht angenehm gewesen, und doch drängte es einen gelegentlich, dem gemeinsamen Vorleben Reverenz zu erweisen. Hallo, so waren wir, so sind wir noch immer, und tschüs.

„Ich weiß nicht“, sagte William. „Ich finde es nicht fair, Sharon unter Druck zu setzen.“

„Gott bewahre. Aber ich habe Corinne versprochen, dass ich mit ihr rede. Schließlich habe ich sie eine ganze Weile nicht gesehen.“

„Wir könnten ihr doch einfach einen schlichten altmodischen Besuch abstatten. Ich weiß nicht. Sie zu drängen, zu Corinne mitzukommen – das finde ich daneben.“

„Uff, William, Ausdruck, bitte, Umgangssprache.“

„Wieso ist das Umgangssprache?“

„Wieso? Woher soll ich das wissen? Weil es eben Umgangssprache ist. Du kannst sagen: ‚Dabei ist mir unwohl’, oder: ‚Das finde ich problematisch.’ Aber ‚das finde ich daneben’ ist einfach Umgangssprache.“ Er griff zu einem Buch, das neben ihm auf dem Tisch lag, und öffnete es. Relativität für Dummies. „Du lieber Himmel“, sagte er und schlug das Buch wieder zu. „Natürlich will Martin nicht über den Prozess reden. Warum erwähnt sie das überhaupt? Denkt sie, ich würde Martin fragen, ob es stimmt, dass er den Wert der Aktien seines Kunden falsch dargestellt hat? Hält sie es für wahrscheinlich, dass ich das tue? Mir reicht es völlig, täglich in der Times darüber zu lesen, wie jeder andere auch.“

„Weißt du“, sagte William, „wir könnten dieses Jahr doch früher wegfahren. Wir könnten einfach schon am Mittwoch aufbrechen, wenn du möchtest.“

„Ich möchte aber nicht. Ich möchte, dass du dein Konzert gibst, wie immer.“

William nahm Otto das Buch ab und ergriff seine Hand.

„So schlimm ist deine Familie doch gar nicht, weißt du“, sagte er.

Manchmal klang Williams Trost seltsam nach Provokation. „Du hast leicht reden“, sagte Otto.

„Nicht so leicht.“

„Tut mir leid“, sagte Otto. „Ich weiß.“

© Carl Hanser Verlag ©

Literaturangaben:
EISENBERG, DEBORAH: Rache der Dinosaurier. Erzählungen. Aus dem Amerikanischen von Nikolaus Hansen, Thomas Überhoff. Carl Hanser Verlag, München 2008. 224 S., 17,90 €.

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