Von Wolf von Dewitz
STUTTGART (BLK) - Lenin ist in der Schweiz geblieben. Er hat seine Sowjetrepublik in den Alpen gegründet. Seither herrscht Krieg – seit fast hundert Jahren schon. Dieses Szenario entwirft Christian Kracht in seinem Roman „Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten“. Er krempelt die Weltgeschichte radikal um und führt sie alptraumhaft bis an ihr grauenvolles Ende: Der einzige Lebensinhalt der verrohten Menschen ist der Krieg geworden. Am Freitag (2.7.) feierte die Theaterfassung des 2008 erschienenen Buchs Premiere am Stuttgarter Schauspiel. Regisseur Armin Petras inszenierte ein finsteres menschliches Puppentheater in Aschebergen.
Ein Stuhl, ein Kreis und ein angedeuteter Davidstern darin. Die Bühne ist karg eingerichtet und nur schwach beleuchtet. „Es war die erste Nacht ohne das ferne Artilleriefeuer, es war die ganze Nacht still“, spricht Michael Klammer in der Rolle eines kommunistischen Parteikommissärs den Auftakt-Satz des Romans. Petras und seine Dramaturginnen Sarah Israel und Nele Weber bleiben in dem 100-minütigen Theaterabend nah an der Romanfassung. Dadurch kommt die geschliffene, reduzierte Sprache von Kracht zur Geltung. Regisseur Petras ist auch Intendant am Berliner Maxim-Gorki-Theater, mit dem das Stück koproduziert wurde.
Es sind Horrorbilder, die in nüchterner Prosa wie selbstverständlich beschrieben werden. „Es ist notwendig, dass der Krieg weitergeht, er ist Sinn und Zweck unseres Lebens“, heißt es. Die Sonnenstrahlen haben ihre Wärme verloren inmitten der Trümmerhaufen des Krieges.
Die Schweizer Bolschewiki haben ihr Reich bis nach Afrika ausgedehnt, dort rekrutieren sie Schwarze als Kanonenfutter für die Angriffe auf die Schützengräben deutscher und englischer Faschisten. Ein Schwarzer ist als Parteikommissär die Hauptfigur. Er will den ominösen Oberst Brazhinky (Till Wonka) stellen und folgt ihm bis in eine Alpenfestung. Es ist eine Art Reise ins „Herz der Finsternis“ mit Anklängen an Ernst Jünger und George Orwells dystopische Romane à la „1984“, also Bücher mit Negativ-Utopien.
Die Figuren der Geschichte werden von Fliegerbomben oder Tretminen zerfetzt. Dem Krieg können sie nicht entkommen, und wenn sie doch davonrennen, laufen sie auf der Bühne im Kreis. Der fortschreitenden Entmenschlichung verleiht Regisseur Petras mit Puppen Ausdruck, die im Laufe des Abends immer häufiger auftauchen. Plötzlich auftauchende Partisanen töten eine Frau und vergehen sich an ihrer Leiche. Diese Szene wird von Puppen nachgestellt, die von den Schauspielern bedient werden.
Christian Kracht hat ein verstörendes Buch geschrieben, das beim Leser mit seinem eigentümlichen Sprachduktus und seiner brutalen Handlung sowohl Ekel wie auch eine gewisse Faszination erzeugt. Die Bühnenversion hat es, den Konventionen der verschiedenen Kunstformen entsprechend, schwerer beim Entwerfen dieser dunklen Bilder. Daran können im Theater auch Videocollagen und die schrille elektronische Musik wenig ändern.
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BLK-Notizblock:
Das Theaterstück „Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten“ ist noch im Juli und Oktober an der Stuttgarter Schauspiel-Nebenbühne Depot zu sehen. Danach wechselt es an das Berliner Maxim-Gorki-Theater. Die Eintrittspreise in Stuttgart liegen zwischen sieben und zehn Euro.
Depot am Schauspielhaus, Landhausstraße 188, 70188 Stuttgart