MÜNCHEN (BLK) – Im Februar 2011 hat der Hanser Verlag das jüngste Buch des österreichischen Autors Arno Geiger herausgebracht. Das Buch trägt den Titel „Der alte König in seinem Exil“.
Klappentext: Arno Geiger hat ein tief berührendes Buch über seinen Vater geschrieben, der trotz seiner Alzheimerkrankheit mit Vitalität, Witz und Klugheit beeindruckt. Die Krankheit löst langsam seine Erinnerung und seine Orientierung in der Gegenwart auf, lässt sein Leben abhandenkommen. Arno Geiger erzählt, wie er nochmals Freundschaft mit seinem Vater schließt und ihn viele Jahre begleitet. In nur scheinbar sinnlosen und oft so wunderbar poetischen Sätzen entdeckt er, dass es auch im Alter in der Person des Vaters noch alles gibt: Charme, Witz, Selbstbewusstsein und Würde. Arno Geigers Buch ist lebendig, oft komisch. In seiner tief berührenden Geschichte erzählt er von einem Leben, das es immer noch zutiefst wert ist, gelebt zu werden.
Arno Geiger wurde1968 in Bregenz geboren und wuchs in Wolfurt / Vorarlberg auf. Nach dem Abitur studierte er in Wien und Innsbruck Deutsche Philologie, Alte Geschichte und Vergleichende Literaturwissenschaft. Von 1986 – 2002 arbeitete Geiger als Videotechniker bei den Bregenzer Festspielen. 1996 erfolgte eine Einladung zum Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb. Seit der Zeit hat Arno Geiger mehrere Bücher veröffentlicht, u.a. „Kleine Schule des Karusselfahrens“ (1997), „Irrlichterloh“ (1999), „Schöne Freunde“ (2002), „Es geht uns gut“ (2005), Erzählband „Anna nicht vergessen“ (2007) und den Roman „Alles über Sally“ (2010). Für sein Werk erhielt er unter anderem den Friedrich Hölderlin-Förderpreis (2005), den Deutschen Buchpreis (2005) und den Johann Peter Hebel-Preis (2008). Heute lebt Arno Geiger als Schriftsteller in Wolfurt und Wien.
Leseprobe:
©Hanser Verlag©
Das gemeinschaftliche Versagen am Anfang lag hinter uns, und die unangenehmen Erinnerungen verloren rasch an Schärfe, denn wir gingen jetzt behutsamer mit dem Vater um, außerdem hielt uns der Alltag mit immer neuen Überraschungen auf Trab. Wir schauten damals wenig zurück und viel nach vorn, denn die Krankheit stellte uns vor ständig neue Herausforderungen. Wir waren Neulinge und versuchten die ohnehin unsichere Herrschaft über unser aller Leben aufrechtzuerhalten – auf der Grundlage von fehlendem Wissen und fehlender Kompetenz.
Der Vater ging viel auf Wanderschaft, meistens zu meinem älteren Bruder Peter, der schräg vis-à-vis wohnt und drei Töchter hat. Doch immer öfter gingen die Ausflüge über den gewohnten Radius hinaus, manchmal mitten in der Nacht, nur unzureichend bekleidet, ängstlicher Blick. Zwischendurch war der Vater nicht auffindbar, weil er sich in eines der Kinderzimmer verirrt und dort in ein Bett gelegt hatte, manchmal stöberte er in den Schränken und wunderte sich, wenn ihm Werners Hosen nicht passten. Irgendwann beschrifteten wir seine Tür mit August und sperrten die Zimmer daneben zu.
Oft war sein Schädel blutig oder er kam mit aufgeschlagenen Knien zurück, weil er auf dem Weg hinunter zu seinem Elternhaus über den steilen und stellenweise verwachsenen Bühel gestürzt war. Einmal drang er in sein Elternhaus ein und stand plötzlich bei der Schwägerin im ersten Stock und erkundigte sich nach dem Bruder Erich. Noch in meiner Kindheit war der Riegel an der Tür durch ein Loch im Holz, in das man den Zeigefinger führte, leicht zu öffnen gewesen. Der Vater hatte es bestimmt mehrfach probiert, nicht wissend, dass der Mechanismus nicht mehr griff. Die Vergeblichkeit seiner Versuche muss ihn vollends verunsichert haben, so dass er sich entschloss, die Tür aufzubrechen.
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Meine Schwester erinnert sich, dass er ständig Telefonate entgegennahm, eine Minute später aber nicht mehr wusste, wer was gewollt hatte. Und natürlich waren es immer die anderen, die etwas weggenommen oder geklaut hatten. Darauf angesprochen, wusste er von nichts und reagierte empört, wenn wir ihn mit dem Verschwinden von etwas in Verbindung brachten. Sein Rasierapparat, den wir verzweifelt gesucht hatten, tauchte in der Mikrowelle wieder auf. Bei seinem Haustürschlüssel, den er in regelmäßigen Abständen verlor, endete es damit, dass meine Mutter ihm den Schlüssel nicht mehr nur an die Hose band, sondern ihn dort annähte. Das war ihm dann auch nicht geheuer, und er zerrte daran herum.
Es tauchten fixe Ideen auf. Am hartnäckigsten beschäftigte ihn eine nahe zum Haus stehende Birke, die der Orkan Lothar in deutlicher Schieflage zurückgelassen hatte. Jeden Tag kam dutzende Male die Frage, ob die Birke dem nächsten Sturm standhalten oder aufs Haus fallen werde, der Vater fragte mit dem Hinweis auf den immer weiter ins Riesenhafte aufschießenden Baum oder mit Blick auf heranziehende Wolken. Ein anderes Thema, das sich beharrlich in seinem Kopf behauptete, war der Zählerkasten, in den er mit manischer Besessenheit hineinschaute. Noch heute habe ich das ständig schnappende Geräusch des Magnetverschlusses beim Öffnen und Schließen im Ohr. Wenn im Winter in der Früh das Haus vor Kälte klirrte, wussten wir, dass der Vater an einem Schalter herumgespielt hatte. Schuld? Natürlich die anderen.
Der Dätt, der Strominkassant, sei ebenfalls sehr aufs Stromsparen ausgewesen. Wenn er beim Frühstück hinzugekommen sei und gefunden habe, es sei bereits hell genug, habe er das Licht gelöscht und gesagt:
„Das Maul werdet ihr schon finden.“
So kleine Geschichten.
Bei den Fenstern habe der Dätt streng darauf geachtet, dass die Vorhänge nicht ins Fenster hängen, er habe sie immer ganz zur Seite geschoben, um mehr Licht einzulassen. Er sei sehr sparsam gewesen – die einzige Eigenschaft, die sich bruchlos auf seine Kinder übertragen hat.
Der Vater war jetzt ebenfalls dauernd mit dem Stromverbrauch beschäftigt. Sein Gehirn glich zu dieser Zeit einer Drehorgel, die gleiche Leier jeden Tag.
Doch irgendwann verschwanden die fixen Ideen, es war ein wenig gespensterhaft, und der Vater fing an, kreativ zu werden.
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Literaturangabe:
GEIGER, ARNO: Der alte König in seinem Exil. Hanser Verlag, München 2011. 192 S., 17,90 €.
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