Von Susanna Gilbert
Seit fast hundert Jahren tobt der Krieg der Schweizer Sowjetrepublik gegen das faschistische Deutschland. Russland ist auf ewig viral verseucht. Wie sich der amerikanische Doppelkontinent selbst zerfleischt, will niemand so genau wissen. In dieser Welt gibt es keine Erinnerungen mehr an friedliche Zeiten. Jeder ist den Gesetzmäßigkeiten des Krieges unterworfen –.auch der einst in Ostafrika rekrutierte Politkommissar, der einen Renegaten einfangen soll und dabei sich selbst rettet.
In seinem düsteren Roman „Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten“ erfindet Christian Kracht den geschichtlichen Verlauf seit dem Ersten Weltkrieg neu. Sein hochliterarisches Was-wäre-wenn- Spiel entpuppt sich als eine „totalitäre Fantasie“ (Frankfurter Allgemeine Zeitung), die in ihrer scheinbaren Gleichmütigkeit, Undurchsichtigkeit und Zusammenhanglosigkeit umso verstörender wirkt.
Wir befinden uns in gar nicht weiter Zukunft, etwa im Jahr 2014: Aus der Alpenrepublik ist die Schweizer Sowjetrepublik (SSR) geworden, denn die bolschewikische Revolution hat nicht Russlands Weiten, sondern die alpine Bergwelt erschüttert – ist doch Lenin niemals in den verplombten Waggon von Zürich nach St.Petersburg gestiegen. In dieser kalten und kriegerischen Welt nimmt der Held der Geschichte und Ich-Erzähler einen Platz ganz oben in der Hackordnung ein. Er, der als letzter Überlebender von vier Söhnen in seiner Heimat an der Grenze von Mozambique aufgewachsen und dort Absolvent einer der vielen Militärakademien war – denn „Man brauchte gute Soldaten für den Schweizer Krieg, und woher sollte man sie nehmen, wenn nicht vom nie versiegenden Menschenquell der afrikanischen Alliierten“ –, hält als „Parteikommissär in Neu-Bern“ viele Fäden in der Hand und erfährt als erster vom Inhalt geheimer Depechen, die eigentlich an den Obersten Sowjet gerichtet sind.
Auf der Jagd nach dem Abweichler Dr. Brazhinsky rückt der linientreue Genosse ins Oberland vor und gelangt nach einigen Abenteuern in das Réduit – „das Jahrhundertwerk der Schweizer – Kern, Nährboden und Ausdruck unserer Existenz“ – eine gigantische Untertunnelung der Alpen, in der hundertausende Soldaten bequem Platz finden. Hier stößt er auf den Gejagden, lässt sich zunächst von dessen versponnener Gedankenwelt fesseln, um dann schließlich, nachdem sich Brazhinsky unter heftigem Geschrei selbst geblendet hat, in den Süden Richtung Heimat aufzumachen.
Nicht immer sind die Verläufe der zwischen historischem Roman und Science Fiction angesiedelten Geschichte nachvollziehbar. Während der Roman zunächst wie ein knapper Tatsachenbericht anmutet, kippt er im weiteren Verlauf in ein bizarres, surreales Endzeitszenario mit wunderlichen Gestalten – Zwergen mit spitz gefeilten Zähnen und einem schwarzen Protagonisten mit dem Herzen am rechten Fleck und zu guter Letzt blau leuchtenden Augen. Krachts neues Buch ist von exzellentem Stil, aber auch von so fragwürdiger Aussagekraft, dass sich in den Chor begeisterter Kritiker auch enttäuschte Stimmen mischen.
Literaturangaben:
KRACHT, CHRISTIAN: Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten. Roman. Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 2008. 149 S., 16,95 €.
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