In diesem Jahr begehen wir ein Jubiläum. Unsere Bundesrepublik wird fünfzig Jahre alt, und natürlich dürfen bei so etwas die Erinnerungen nicht fehlen. Da sind die Sendungen im Fernsehen, die Bilder von den Anfängen der Republik, vom Kriegsende. Zerbombte Städte, Trümmerfrauen, Wirtschaftswunder und die Anfänge von Ost und West.
Passend dazu kommt da der neue Roman „Kalter Hund“ der Berliner Schriftstellerin Karin Reschke daher. Die fünfziger Jahre, Wiederaufbau, die Gratwanderung zwischen den Schrecken des gerade überstandenen Krieges und der Wirtschaftswunderwelt. Alles natürlich beheimatet in Berlin, dem Dreh- und Angelpunkt dieser Jahre. Reschke legt die Befindlichkeiten dieser Zeit in eine Familie und wählt die Jüngste als Zeugin und Erzählerin für die Erinnerungsreise.
Rose wächst bei Mutter und Großeltern auf, den Kontakt zum Vater, „dem Schuft“, hat Mutter Lissy verboten. Während diese sich in ihrem Selbstmitleid als Betrogene eingerichtet hat und ihren Kummer „in Taschentüchern konserviert“, dreht sich in Roses Denken und Fühlen alles um den abwesenden Vater. Durch Briefe, ein Wiedersehen, später regelmäßige heimliche Treffen tritt er wieder in ihr Leben: Der Vater, der Radiomann, zuständig für die schönen Künste. Die Stimme, die ihr früher Grimms Märchen vorgelesen hat und dessen „Sprechgesang“ sie nun zum Einschlafen aus ihrem Kofferradio hört.
Diese Treffen sind ein offenes Geheimnis, man weiß es, spricht aber nicht darüber. So wie vieles im Geheimen bleibt in der Familie. Da ist Lissy, für immer 36 Jahre alt, die heimlich beim Rundfunk im Osten, bei den „Feinden“, arbeitet oder Onkel Arnold, der, in Frankreich desertiert, als Fremder, als „Feigling“ zurück kommt. Die Großeltern fühlen sich um ihr Heldenideal vom Vermissten, vom toten, strahlenden Sohn betrogen und strafen Arnold mit Nichtachtung. Man ist wieder wer im Deutschland der Fünfziger Jahre und was nicht passt, wird weggeschwiegen.
Neben der Familie und der Schule sind da Roses erste Erfahrungen mit Jungen. Bei „Mister Feuervogel“ reicht es für „Zärtlichkeiten des Augenblicks“ zwischen den Kartons mit geschmuggelten amerikanischen Zigaretten und Whiskey. Es folgen ein Orgel spielender Student, ein Nachhilfelehrer und schließlich die zärtlichen Stunden mit Toni Siebert im väterlichen Kino. All diese Begegnungen sind seltsam nebensächlich und gefühlsarm. Auch Freundinnen kommen in Roses Leben nicht vor.
Rose erzählt aus einer Jetztzeit aus ihren Erinnerungen heraus. Und wie sie selbst sind auch die anderen Familienmitglieder in der Vergangenheit verhaftet: Lissy, trotz neuer Verehrer, in der guten Zeit als Ehefrau und Vater Rapmund in der Zeit bevor seine Radiostimme im Krieg zum Schweigen verurteilt wurde. Die Großeltern pflegen ihr Ideal vom vermissten Helden, mit Trauerbändchen und in Silber gerahmt, und Rose versinkt in Romanen von Dostojewski und Tolstoi, in den Zeiten von Anna Karenina und Krieg und Frieden. Sie alle trauern um Vergangenes, Veränderungen geschehen heimlich. Lissy arbeitet im Westen, neue Verehrer treten auf und auch Onkel Arnold kehrt dem Osten den Rücken. Man hört wieder von Auffanglagern und Flüchtlingen. Bei allem gibt es keine gemeinsamen Entscheidungen, jeder handelt für sich. Und es gibt kein Reden. Die Vergangenheit bleibt bruchstückhaft. Von den Schrecken des Krieges erfährt Rose nur durch Anne Franks Tagebuch.
Und so ist dann die Familie ein Mikrokosmos der Gesellschaft dieser Jahre. Alles Schlimme, Bedrückende, die Schrecken des Krieges werden totgeschwiegen. Dabei haben sie alle mit Sprache, mit Reden zu tun. Rapmund der Radiomann, Lissy die Sprecherin. Doch was in der Außenwelt funktioniert, gelingt nicht in der Familie. Hier wird geschwiegen, man lebt in Heimlichkeiten, Unausgesprochenem, das laut durchklingt. Manchmal stehen die Beteiligten dabei fast vor einer Aussprache, aber die Momente vergehen: „Der Zeitpunkt passt, aber die Leute passen nicht zum Zeitpunkt“.
Rose ist Zeugin dieses Schweigens. Sie betrachtet von außen, distanziert, aus ihrer Erinnerung heraus. Sie registriert, zieht ihre Schlüsse, doch auch sie kommt nur zum Sprechen außerhalb der Familie. Sie spricht für Rapmund die Laura aus Tennesse Williams „Glasmenagerie“ ein – bezeichnender Weise die Geschichte einer Familie, deren Mitglieder vor der Wirklichkeit in ihre eigenen kleinen Traumwelten fliehen: Eine Mutter, die der verlorenen Jugend nachtrauert, ein Sohn, der im Kino der Wirklichkeit entflieht und nicht zuletzt Tochter Laura, die sich ganz in der heilen Welt ihrer Glastierchen verliert. Alle entfliehen der Realität, unfähig ihr Selbst nach außen zu tragen. Am Ende bleiben sie innerlich zerbrochen und ohne Hoffnung zurück. Unübersehbar die Verbindung zu Reschkes Familienkonstellation. Doch während es bei Williams streng komponiert auf den Höhepunkt, den Zusammenbruch zuläuft, gibt Reschke ihren Figuren die Möglichkeit sich zu entwickeln, ist ihr Ende nicht ganz so dramatisch.
Williams Werk trägt den Untertitel „Ein Spiel der Erinnerungen“. Dies trifft auch auf den Roman von Karin Reschke zu. Ihre Rose erinnert sich aus einer Gegenwart heraus an ihre Jugendzeit. Kalter Hund und Apfelbrause stehen dabei für die gute Zeit und geschickt streut Reschke mit Nierentischchen, karierten Tapeten und Nylonstrümpfen das passende Zeitkolorit in ihre Geschichte. Das liest sich unterhaltsam, in einfach erzählender Sprache und kurzen Kapiteln. Doch bei genauem Hinsehen merkt man, dass dies mehr sein kann als ein schönes Erinnerungsbuch an eine Kindheit. Reschke erzählt von der Betrachtung einer Familie. Gemeinsam mit dem Leser steht Rose in ihren Erinnerungen außerhalb dieser Familienkonstellation. Mit scharfem Blick analysiert sie, fügt zusammen und beobachtet die einzelnen Mitglieder. Und sie sieht viel neben den Annehmlichkeiten der heilen Wirtschaftswunderwelt. Da sind die Heimlichkeiten, das Schweigen und die Sprachlosigkeit nach dem Krieg. Zerbrochene Familienstrukturen, all die dunklen Flecken, die Risse im neuen Wirtschaftswunderglück.
Reschke hat viele Anknüpfungspunkte für die großen Themen in ihren Roman gepackt. Symptomartig, wie unter einem Mikroskop, gibt sie dem Leser Stichworte für eigene weiterführende Überlegungen. Da sind die Apfelbrause für die gute Zeit, der Kriegsheimkehrer und Deserteur, der Schwarzmarkthandel, Auffanglager und Flüchtlinge aus dem Osten. Daneben schafft sie es für Liebhaber des Radios noch eine kleine Geschichte des Rundfunks in Deutschland einzufügen. Und so bleibt es letztlich dem Einzelnen überlassen, ob er Reschkes Buch als unterhaltsame Erinnerungslektüre an eine Kindheit in den fünfziger Jahren liest oder als tiefer gehende Betrachtung eines Familiengefüges nach dem Ende des Krieges. Karin Reschke schafft damit einen Spagat. Ihr neues Buch ist keine große Literatur. Es ist ein kleines Buch in eingängiger Sprache. Bewusst werden Plattitüden verwendet, gängige Wendungen der Zeit, die das Kind Rose den Erwachsenen nachspricht und so für den Leser enttarnt.
„Kalter Hund“ ist ein Buch für Jedermann, gut zu lesen, für Fünfziger-Jahre-Fans, Radionostalgiker und Hobbypsychologen. Eine gelungene und willkommene Mischung zwischen den geschichtlichen und politischen Veröffentlichungen zur Geburtsstunde der Republik und dem verklärten Hochglanz der Fünfziger-Jahre-Nostalgien.
Von Mascha Nicksch
Literaturangabe:
RESCHKE, KARIN: Kalter Hund. Roman. Weissbooks, Frankfurt/Main 2009. 163 S., 18,80 €.
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