MÜNCHEN (BLK) – Im April 2009 ist bei dtv der Kriminalroman „Kühlfach 4“ von Jutta Profijt erschienen.
Klappentext: Dr. Martin Gänsewein trägt Dufflecoat, fährt Ente, sammelt alte Stadtpläne und geht als Rechtsmediziner dem täglichen Geschäft mit dem Tod äußerst gewissenhaft nach. Über das Seelenleben der Verstorbenen macht er sich keine Gedanken, bis ihm eines Tages die Seele von Autoschieber Pascha ein Gespräch aufdrängt. Pascha ist soeben gestorben – und stinksauer darüber. Sein angeblicher Unfalltod war in Wirklichkeit nämlich Mord. Da Martin der Einzige ist, mit dem er Kontakt aufnehmen kann, soll der ihm jetzt helfen, die Wahrheit ans Licht zu bringen. So nistet sich die nervtötende Seele bei dem Rechtsmediziner ein, und das Verhängnis nimmt seinen Lauf. Martins Leben gerät in den nächsten Tagen nicht nur völlig aus den Fugen, sondern auch in große Gefahr. Und jetzt ist es an Pascha, sich schnellstens etwas einfallen zu lassen, um seinen neuen Freund zu retten...
Jutta Profijt wurde 1967 in Ratingen geboren. Nach dem Abitur ging sie ins Ausland, verkaufte Walzwerke, unterrichtete Unternehmensvorstände und Studenten und veröffentlichte 2003 ihren ersten Kriminalroman. Heute lebt sie als freie Autorin in der niederrheinischen Provinz.
Leseprobe:
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eins
Der Tag, an dem, wie ich heute weiß, alles anfing, begann übel, sozusagen auf dem untersten Level, ich hätte also gewarnt sein müssen. Allerdings, und das muss ich zu meiner Entschuldigung sagen, fingen die meisten Tage so an. Sowieso nie vor Mittag und mit einem widerlichen Geschmack im Mund, einem dicken, flusigen Otterpelz auf der Zunge, einem quälenden Heimwerkerwetthämmern im Kopf und dem üblichen Schmacht nach einer Zigarette, einem Bier und einer Frau.
Bier war keins da, für die Zigarette musste ich aufstehen und eine Frau hatte ich schon länger nicht mehr gehabt. Während ich noch ein bisschen im Restschlaf vor mich hin dämmerte, fiel es mir plötzlich ein: Ich war verdammt spät dran. Das war an den meisten Tagen kein Problem, aber an diesem Tag hatte ich einen wichtigen Termin. Einen Auftrag. Einen wichtigen Auftrag von einem wichtigen Mann. Und ich wollte alles richtig machen und hatte schon verpennt! Ich konnte von Glück sagen, dass der Druck in meinem Ablassrohr meinen seligen Schlaf unterbrochen hatte. Natürlich war es nicht der Druck im Rohr, sondern in der Blase, würde Martin jetzt sagen, denn Martin ist gern präzise. Aber damals kannte ich ihn noch gar nicht. Ich sollte ihn erst ein paar Tage später unter für mich ausgesprochen unerfreulichen Umständen kennenlernen und formulierte daher biologische Gesetzmäßigkeiten noch reichlich laienhaft und somit unpräzise.
Hätte ich geahnt, dass an diesem Tag die Weichen für den Rest meines Lebens gestellt wurden, wäre ich natürlich liegen geblieben. Aber ich hatte keine Ahnung, sehe auch jetzt im Rückblick keine Anzeichen, die auf die kommende Katastrophe hingedeutet hätten. Ich stand also auf und genauso blind, wie ich ins Bad schlurfte, lief ich in mein Verderben.
Normalerweise riskiere ich um diese Uhrzeit noch keinen Blick in den Spiegel, aber da ich schließlich noch etwas vorhatte, unterzog ich meine Erscheinung einer kritischen Inspektion. Nicht dass Sie jetzt meinen, ich würde kurz nach dem Aufwachen schon in Worten wie »kritisch« und »Inspektion « denken, auch diese Worte habe ich erst durch Martin wieder in meinen aktiven Wortschatz zurückgeholt. Ich denke kurz vor dem Duschen überhaupt nicht viel und wenn, dann nur in einsilbigen Grunz- und Brummlauten. Ich blinzelte also einfach so lange mit den verklebten Augen, bis ich erstens erkennen konnte, wo der Spiegel hing, und zweitens einen mittleren Schock erlitt, als die Visage, die mich anstarrte, klarer wurde.
Mit dem schärferen Blick kam die Erinnerung an Bennies neues Messer zurück. Er hatte mit dem Ding herumgefuchtelt und etwas gesucht, das er zerschneiden konnte, um zu beweisen, wie scharf die Klinge ist. Seine suchenden Augen fanden – mich. Ich stand in Reichweite, er griff mit der linken Hand in meine Haare, und mit einem blitzschnellen Schnitt hatte er mir eine neue Frisur verpasst.
Weil ich zuckte, und nur deshalb, betonte Bennie später, schlitzte die Klinge im Anschluss an den Haarschnitt auch noch meine linke Augenbraue auf. Eine dünne Spur getrockneten Blutes zog sich also auf dem Gesicht im Spiegel von der Augenbraue bis zum Kinn, und bei der Erkenntnis, dass diese hässliche Fratze dort meine eigene war, erschrak ich wirklich sehr.
Ich verplanschte eine Menge warmes Wasser, bis ich wieder einigermaßen zivilisiert aussah, wobei ich die letzten Jahre darauf verwendet hatte, mir genau diese, aus meinem Elternhaus stammende Zivilisation abzutrainieren. Aber mein wichtiger Auftrag erforderte ein unauffälliges Äußeres, und daherwählte ich nach derDusche eine blaue Jeans, eine dunkle Jacke und eine Dachpappe, die das Ergebnis der Messerstecherei auf meinem Kopf einigermaßen verbarg. Ein prüfender Blick in den staubigen Spiegel meines wackeligen Kleiderschranks zeigte das Bild, für das ich mir solche Mühe gegeben hatte: Einen mittelgroßen, unauffälligen, etwas dürren Typen mit halblangen Haaren, die ich auch noch unter dieMütze steckte. Straßenköterblond mit unauffälligem Profil, gerader Nase, schwach ausgeprägtemKinn und hängenden Schultern. Ein Allerweltstyp, den auch die neugierigsten Augenzeugen nicht konkret würden beschreiben können. So wollte ich aussehen, weil ich dachte, dass mir das irgendwie helfen würde. Alles Blödsinn!
Ich machte mich zu Fuß auf den Weg zum Parkplatz des »Congress-Centrum Coeln«, wie das auf Neudeutsch heißt. Wenn man ein Auto klauen will, ist es nicht ratsam, mit dem eigenen Wagen hin- und mit dem geklauten Auto wegzufahren. Die Bullen sind nicht so doof, wie manche Leute meinen. Die kommen schnell auf die Idee, die in der Nähe des Tatortes abgestellten Karren zu überprüfen, und dann kriegen sie dich schneller, als du gucken kannst. Sollten Sie sich merken, ist ein guter Rat vom Fachmann.
Öffentliche Verkehrsmittel sind vollkommen unerträglich. Deshalb ging ich zu Fuß, lief mir die Gehwerkzeuge platt und bekam langsam Blasen an den Fersen, weil ich das Herumpudeln nicht gewöhnt bin. Wofür hat der liebe Herrgott schließlich die Autos erfunden? Endlich kam ich also zu dem genannten Parkplatz und tatsächlich stand der voll mit den schärfsten Orgeln, die die Schwaben oder die Bayern oder welche Trachtenjodler auch immer in ihren schicken High-Tech-Fabriken zusammenschrauben. Ein Ding dicker als das nächste, tiefer, schneller, geiler. Sonderausstattungen, limitierte Editionen und Einzelmodelle nach Kundenwunsch. Fünfzig feuchte Träume auf einem halböffentlichen Parkplatz ohne nennenswerte Bewachung. Ein Parkplatz, dessen Qualifikation nicht die Sicherheit ist, sondern die Nähe zum Haupteingang. Ein Parkplatz, dessen Benutzung nur den VIP-Gästen offensteht. Ein Parkplatz mit einem einzigen Videoauge für mehrere Hundert Quadratmeter, einer Schranke, die jeder halbwegs clevere Primelkopf mit Mamis Super-Fitness-Kundenkarte öffnen kann, also die typisch deutsche Sicherheitskatastrophe. Kein Problembewusstsein, obwohl jedes Jahr in Deutschland über fünfzigtausend Autos geklaut werden. Vor Einführung der Wegfahrsperre waren es übrigens fast doppelt so viele. Und ich gehöre zu denen, die auch die kniffligen Fälle erledigen.
Ich ging also in der einsetzenden Abenddämmerung in meinem unauffälligen Outfit mit unauffälligem Schritt möglichst unauffällig über den Parkplatz und blickte mich um – natürlich unauffällig. Und tatsächlich, da war er. Bis zu diesem Moment hätte ich nicht geglaubt, dass es wirklich Menschen gibt, die so durch und durch unterirdisch dämlich sind. Menschen, die einen Mercedes SLR auf dem unbewachten Parkplatz vor einem Kongresszentrum abstellen und sich einbilden, dass ihre Karre noch da steht, wenn sie ihre Mister-Wichtig-Convention abgenudelt haben und vor die Tür treten, um sich in ihre Halbe-Million-Euro-Schüssel zu klemmen und nach Hause zu Mutti zu gondeln. Aber tatsächlich, zwischen den dicken Daimlern, Jaguars, BMWs und sogar einem Bentley stand er, der SLR, von dem der Auftraggeber mir berichtet hatte. Den wollte Olli haben.
Olli ist ein Autoschieber. Natürlich steht er nicht in den Gelben Seiten unter dem Eintrag »Autoschieber«. Er steht unter »Kfz-Werkstatt, An- und Verkauf«, und das ist im Prinzip auch richtig. Nur vertickt er weitaus mehr Autos als er ankauft, weil die Beschaffung der Differenz ohne Kaufvertrag und ähnlich lästigem Papierkramvonstatten – geht. Olli ist eine ganz große Nummer mit Kontakten in den Osten. Bestimmt denken Sie jetzt sofort an Russland oder Polen, aber das sind nicht seine Abnehmerländer. Jede Putzfrau macht inzwischen Geschäfte mit den Russen und den Polen, die sind so etabliert, dass sie schon wieder spießig sind. Olli macht Geschäfte mit einer Gang aus einem der kleinen Länder, ich kenne mich in der Ecke nicht so gut aus, den Namen habe ich mir nicht gemerkt. Ist ja auch egal. Jedenfalls kennt Olli die gesamte Nord-Süd-Ost-West-Autoschieber-Szene wie seine eigene Gesäßtasche. Mich kennt er auch gut, ich habe nämlich mal für ihn gearbeitet, bis wir wegen einer dummen Sache aneinandergeraten sind. Normalerweise wäre es weit unter seiner Würde, meine Existenz jemals wieder zur Kenntnis zu nehmen, aber gestern Abend hat er mir einen seiner Handlanger vorbeigeschickt. Der gab mir den Auftrag, in dessen Ausführung ich mich gerade befand.
Ich will keine Details verraten, denn einen SLR zu klauen ist eine heikle Kiste, und ich bilde mir etwas darauf ein, als einer der wenigen die notwendigen Tricks und Kniffe zu kennen. Deshalb verrate ich sie auch nicht weiter, obwohl mir das Wissen ja nun leider nichts mehr nützen wird. Aber um die Sache kurz zu machen: Ich hab das Ding vom Parkplatz weggeklaut. Leider war es durch meinen gesegneten Schlaf und den langen Fußweg inzwischen schon etwas später als geplant und die Geldsäcke, deren fahrbare Untersätze auf dem Parkplatz standen, traten gerade in Zinnsoldatenmanier und dreiteiliger Einheitskleidung vor die Tür, als ich den Motor startete. Nun ist der Sound, den ein SLR macht, nicht mit dem eines beliebigen Zweit- oder Drittwagens zu verwechseln, also drehten sich fünfzig Köpfe zu mir um, als ich die Kiste aus der Parkbucht jagte. Im Rückspiegel konnte ich noch eine angedeutete La-Ola-Welle erkennen, als neunundvierzig Arme in meine Richtung zeigten und eine Hand in die Jacketttasche fuhr, vermutlich Um einHandy rauszuholen und die Bullen zu rufen. Aber dann verlor ich das Interesse an der Szene hinter mir und konzentrierte mich darauf, mein neues Gefährt zügig, aber nicht zu schnell durch die dunkle Innenstadt Richtung Autobahnauffahrt zu lenken. In der Rushhour an einem Winterabend bei Dunkelheit und eisigem Nieselregen verschwindet selbst ein Vierzigtonner schneller im Gewühl als ein Nichtschwimmer im Niagarafall, und in dem Moment hätte ich glatt glauben können, dass alles gut wird.
Ich widerstand der Versuchung, zu schnell zu fahren, andere Fahrer zu nötigen, rechts zu überholen, die Spur im letzten Moment vor dem Abbiegen zu wechseln und allen anderen Verlockungen, die Autofahren erst richtig hypertonisch krokofantös machen, denn ich wollte ja nicht auffallen. Wenn man in einem geklauten Auto sitzt, sollte man korrekter fahren als bei der Führerscheinprüfung. Ich hielt mich dran. Ich brauchte siebenundzwanzig Minuten bis zu dem vereinbarten Treffpunkt, war fünfundvierzig Sekunden vor der vereinbarten Zeit da. Mist! Ich hätte noch ein paar Minuten Zeit gebraucht, denn bevor man eine geklaute Karre weiterreicht, macht man sie leer. Man sucht alles aus Handschuhfach, Ablagen, Kofferraum und unter den Sitzen hervor, was man noch selbst brauchen oder anderweitig verticken kann. Jetzt war der Turbodurchgang gefragt. Handschuhfach: Straßenkarten, Knebelsäcke, Sonnenbrille, Schreibset. Unter den Sitzen: ein Bündel Geldscheine, Summe auf die Schnelle nicht feststellbar, egal, einstecken. Im Kofferraum: eine nackte Frau.
Ich schlug den Kofferraumdeckel zu, hyperventilierte ein bisschen, öffnete die Klappe wieder und sah sie immer noch dort liegen. Halb auf dem Rücken, die Knie voll angewinkelt, die Arme neben dem Körper, den Kopf etwas zur Seite gedreht. Sie war klein und zierlich, füllte den winzigen Kofferraum aber total aus. Ich stupste sie mit dem Finger an, sie war eiskalt. Ich schob den einen Arm ein bisschen zur Seite und bekameinen riesigen Schreck, als ich die violette Unterseite des Arms sah. Ich legte einen Finger an die Stelle, an der ich die Halsschlagader vermutete: nichts. Sie hatte Tätowierungen um die Fußknöchel, sie war ziemlich hübsch, wenn auch leider dick geschminkt, und sie war mausetot. Ich schloss den Kofferraumdeckel wieder über ihr, vorsichtig, als ob es ihr etwas ausgemacht hätte, wenn ich das Ding mit einem lauten Knall zuschlug. Dann lehnte ich mich an die Fahrertür, fummelte eine Zigarette aus der Jacke, zündete sie an und inhalierte so tief, dass die halbe Fluppe mit einem Mal weg war.
Ich musste sie wegschalten. Die Frau, nicht die Kippe. Man gibt einem Autoschieber kein Auto mit einer Leiche im Kofferraum, noch nicht einmal, wenn es ein SLR ist. Oder erst recht nicht einen SLR? Ich war verwirrt, aber ich wusste, dass die Frau verschwinden musste. Freiwilligwürde sie mir den Gefallen nicht tun, also war es Zeit, dass ich mir eine wirklich schlaue Lösung für dieses wirklich ungewöhnliche Problem einfallen ließ, und zwar rapido. Ich nahm noch einen sehr tiefen Zug, warf die Kippe weg und wollte einsteigen, als ich eine Hand auf der Schulter spürte. Ich zuckte so heftig zusammen, dass ich mir das Kinn am Wagendach anschlug.
»Hey, Pascha, du bist pünktlich. Das ist gut.« Der Typ, der mich da begriffelte und mir mit seinem Pädagogengewäsch kam, hieß Kevin, trug einen Kinnbart, der aussah, als hätte seine Freundin ihm den mit einem feinen Eyeliner auf den Kiefer gemalt und grinste ständig. Vielleicht litt er an Gesichtslähmung. Ich fand ihn jedenfalls immer widerlich und jetzt erst recht. Er hielt die Hand auf.
Ich japste nach Luft und jaulte auf, weil ich mir nicht nur das Kinn angestoßen, sondern auch noch auf die Zunge gebissen hatte, und überlegte krampfhaft, was ich noch tun könnte, um erst die Leiche aus dem Auto verschwinden zu lassen, bevor Kevin die Kiste zu Olli brachte. Es half nichts, mein Laufwerk hatte einen Hänger, die Gedanken wollten keine klare Form oder Richtung annehmen, also ließ ich völlig entkräftet die Schlüssel in Kevins Hand fallen und schüttelte den Kopf, als er mir anbot, dass sein Kumpel mich zurück in die Stadt mitnehmen könnte. Ich stand geschlagene fünf Minuten unbeweglich auf dem Parkplatz, bis ich mich dazu durchringen konnte, die Überbleibsel meines fettigen Mitternachtsburgers in die Schüssel des Raststättenklos zu kotzen. Danach ging es mir etwas besser und ich machte mich auf den Weg nach Hause.
Diesmal mussten es doch die öffentlichen Verkehrsmittel sein und ich dachte, was jetzt wohl passieren würde. Kevin hatte mehrere Hundert PS unter dem Hintern und würde einen Unfall bauen, bei dem das Auto Feuer fing, das sowohl Kevin als auch die Tote in feine Asche verwandelte. Das war meine Lieblingsvision. Es gab aber auch andere. Kevin fuhr direkt zu Olli, der blickte in den Kofferraum, ärgerte sich darüber, dass ich ihm eine Mumie mitgeliefert hatte, die nicht bestellt war, und kippte die Leiche umgehend bei mir vor der Haustür ab. Oder er verteilte Handzettel mit einem Foto der Toten, auf denen stand: »Sie vermissen diese Frau? Fragen Sie Pascha, Telefon …«. Am wahrscheinlichsten allerdings war wohl, dass entweder Kevin oder Olli die Leiche im Kofferraum entdeckten, zum nächsten Waldweg fuhren, sie dort ausluden und dann den Wagen, ganz wie geplant, Richtung Osten vertickten. Immerhin hatte ich keine Blutlachen oder sonstige Verunreinigungen im Kofferraum gesehen, also konnte das Geschäft mit dem fast nigelnagelneuen SLR ganz normal über die Bühne gehen.
Bei diesem beruhigenden Gedanken angekommen, stieg ich aus dem überfüllten Bus, ging die kurze Strecke zu meiner Lieblings-Spielhalle und warf ein paar Münzen in die Automaten. Langsam konnte ich wieder normal atmen, nur die Zunge tat höllisch weh, als der heiße Kaffee mit vier Löffeln Zucker daran entlanglief.
Ich zockte fünf Stunden lang und besaß danach keinen einzigen Cent mehr. Nicht nur mein ganzes Geld einschließlich der fünfhundert Peitschen aus dem SLR war draufgegangen, schlimmer noch: Ich hatte Mehmet, der den Laden führt, mehrere Kredite aus der Tasche geleiert, sodass meine Schulden sich am Ende des Tages auf schlappe neunzehnhundert Euro beliefen. Nicht nur Automatenschulden, aber das dürfte den Cleveren unter Ihnen bereits klar geworden sein. Mehmet war wütend, weil er offiziell keine Kredite geben darf und jetzt selbst für den Verlust geradestehen musste. Ich hatte ihm dauernd von einem großen Deal erzählt und musste nun versprechen, ihm die Kohle zu bringen, sobald ich meinen Anteil an dem Geschäft erhalten hatte. Ich versprach’s und hoffte, die versprochene Kohle von Olli tatsächlich zu bekommen. Achtundvierzig Stunden betrug meine Schonzeit, danach würde Mehmet auf die Jagd gehen. Der Tag hatte beschissen begonnen, er hatte einen katastrophalen Höhepunkt gehabt, und er endete im Desaster.
Weder am nächsten noch am übernächsten Tag hörte ich von Kevin oder Olli, und das machte mich langsamnervös. Die achtundvierzig Stunden, die Mehmet mir gewährt hatte, liefen bald aus und ich wusste nicht, wie ich die Schulden bezahlen sollte. In der Wohnung hatte ich noch fünfzig Euro gefunden, meine eiserne Reserve in den zusammengerollten Sportsocken, die ich schon seit Jahren nicht mehr trug, aber wenn ich Mehmet mein Sockengeld gab, war ich völlig blank und er war immer noch sauer, das war also keine Lösung. Ich hockte abwechselnd bei mir zu Hause und in meinen liebsten Kneipen rum, wartete darauf, dass Kevin oder ein anderer Laufbursche von Olli auftauchte, um mir die versprochenen zweitausend Euronen zu geben, und wurde kurz vor Ablauf des Ultimatums nervös. Noch nervöser, als ich ohnehin schon war. Ich wollte nicht wie ein Schlachtvieh dumm rumstehen und auf den Typ mit dem Bolzenschussgerät warten, also setzte ich mich in die nächstbeste Straßenbahn, fuhr einfach drauflos, wechselte Linie und Richtung, fuhr zurück, nahm dann den Bus und fuhr kreuz und quer durch die Stadt. Ich wechselte wieder in die Straßenbahn, wo es abwechselnd eiskalt oder brüllend heiß war, und als ich einen Sitzplatz am Fenster ergatterte und den Beschlag von der Scheibe wischte, lagen schon zwei Zentimeter Schnee. Auch das noch. Ich hasse Schnee. Wer schnelle Autos liebt, muss Schnee hassen. Ich stieg an einem belebten Platz mit einem Kiosk aus, legte das Sockengeld in alkoholischen Getränken an, nahm eine Bahn Richtung Innenstadt und fing schon während der Fahrt an, mich volllaufen zu lassen. Irgendwo stieg ich aus, natürlich hatte ich das große Glück, mitten in einer Straßenbaustelle zu landen. Hatte gar nicht gewusst, dass in unserem Land noch in Infrastruktur investiert wird. Ich kraxelte provisorische Holztreppen hoch, drängelte mich mit anderen Fahrgästen durch Engstellen, verlief mich und nahm irgendwann eine Überführung, an der ein Schild »Richtung Innenstadt« hing. Mein Sichtfeld hatte sich inzwischen dramatisch verkleinert, die Geräusche aus der Umgebung erreichten meine Horchbretter wie aus weiter Ferne, aber immerhin machte ich mir keine allzu großen Sorgen mehr wegen meiner Schulden.
Den Stoß in den Rücken spürte ich trotz Vollrausch. Er erwischte mich in einem denkbar ungünstigen Moment. Vor mir lagen zwei abwärtsführende Stufen und ein provisorisches Geländer. Mein Schritt wurde durch den Stoß etwas weiter als geplant, dadurch verpasste ich die erste Stufe. Die zweite war schneebedeckt, deshalb glatt, und so rutschte mein profilloser Schuh über die Kante. Das dünne Brett, das als Geländer dienen sollte, hatte ungefähr so viel Halt wie ein Abschleppseil aus Hosengummi. Der Nagel, der an der linken Seite die Verbindung zum Pfeiler herstellen sollte, gab sofort und ohne sich zu zieren nach, der rechte folgte kurz darauf. Meine Beobachtungsgabe war in diesen Sekunden so unbeschreiblich gut wie nie zuvor, und vielleicht hätte das allein mich schon stutzig machen sollen, aber dazu hatte ich gar keine Zeit. Ich rutschte mit den Füßen voran durch das Geländer, kippte nach hinten und schlug mit dem Hinterkopf unglaublich hart auf dem Holz der Brücke auf, bevor ich komplett absemmelte. Meinen Sturz in die Tiefe erlebte ich in Slow Motion. Um irgendeine Achse kreiselnd donnerte ich auf den sechs Meter tiefer liegenden Plattenweg. Das Geräusch, das mein Körper und vor allem meine Denkschüssel beim Aufprall machte, erschreckte sogar die Leute, die meinen Sturz gar nicht hatten sehen können, weil sie mir den Rücken zuwandten. Ich konnte, da ich auf dem Bauch, aber mit dem Gesicht zur Seite lag, noch kurz einen Blick auf Gesichter erhaschen, die sich mir zuwandten, dann sah ich nichts mehr.
Die Dunkelheit währte nur einen kurzen Moment, denn plötzlich, nach schätzungsweise zehn Sekunden, konnte ich die ganze Szenerie sehr klar beobachten – und zwar von oben. Nun haben wir ja alle schon zur Genüge diese Nahtod-Gespenster gesehen, die von Talkshow zu Talkshow geistern, um von ihren geheimnisvollen Erfahrungen zu berichten. Sie betrachten ihren Körper von außen, dann kommt der Tunnel und das Licht, blablabla. Ich dachte mir also noch nicht viel dabei, als ich über meiner verrenkt herumliegenden äußeren Hülle schwebte, und wartete auf den Tunnel, das Licht und darauf, endlich wieder in meinem eigenen Körper aufzuwachen. So haben diese wiedergeborenen Fernseh-Fuzzis das schließlich immer beschrieben. Ich hing also so herum und wartete. Beobachtete, wie Leute meinen Körper anstießen, wie jemand sich wichtig machte, etwas von Rettungssanitäter faselte, mir ans Handgelenk und die Halsschlagader fasste und dann mit wichtigem Gesichtsausdruck dem Mann, der die Polizei informierte, das Handy aus der Hand nahm und hineinsagte, der Verunfallte sei tot. Moment mal, dachte ich mir, jetzt übertreibt der Typ aber.
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Literaturangabe:
PROFIJT, JUTTA: Kühlfach 4. dtv, München 2009. 256 S., 9,95 €.
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