„Berührung ist nur eine Randerscheinung, aber sie bringt uns alle um“, behauptet Georg Trakl. In seinem Debütroman „Alle Wasser laufen ins Meer“ begleitet Martin Beyer den jungen Schriftsteller und seine Schwester Grete durch eine stürmische Jugend bis hin zum Ersten Weltkrieg. Wie die Geschwister sich lieben, zerstören, durch Drogenexzesse und Lebenskrisen wirbeln, vermittelt nicht nur Einblicke in das Leben des Lyrikers, sondern ist auch turbulent und empfindsam geschrieben.
Mord, Vergewaltigung, Inzest, Krieg, Eifersucht und Wahn – wüsste man nicht, dass es sich um Trakls Leben handelt, könnte man meinen, der Autor habe es mit seinem Hang zum Dramatischen etwas zu gut gemeint und hätte sich einen abgetrennten Penis oder einen inszenierten Mordversuch sparen können. Aber er hat es nicht zu gut gemeint. Dem expressiv expressionistischen Leben und Werk der Geschwister Georg und Grete Trakl scheint immer mindestens ein Weltuntergang zu drohen. Wenn Wien nicht von einem Meteoriteneinschlag bedroht ist, zerbricht die Welt der Buchstaben an der Grausamkeit des Ersten Weltkrieges, die Geschwister quälen sich aus zerstörerischer Liebe und Körperteile werden abgesägt. Es wird gemordet, gestorben und Drogen werden überdosiert, bis die Dämonen kommen.
Georg und Grete wachsen mit fünf Geschwistern in einer bürgerlichen Salzburger Familie auf. Früh versuchen die Eltern, die Geschwister zu trennen, und stecken Grete in ein Internat – damit Georg sie nicht verderbe. Grete ist eine talentierte Klavierspielerin, zwar finanzieren die Eltern ihr zunächst eine Klavierausbildung, das künstlerische Interesse der Geschwister sehen sie allerdings als Problem. Die beiden seien „Wurschtikusse“.
Tatsächlich schafft Georg es nicht, eine Arbeit langfristig zu behalten. Er bricht Schule und Studium ab und nutzt sein Praktikum beim Apotheker, um sich und Grete mit Drogen zu versorgen. Grete nimmt Klavierstunden in Berlin und Wien, muss ihre Ausbildung aber abbrechen, als Tobias Trakl stirbt und seine Familie in finanzieller Not zurücklässt. Um den Unterricht fortführen zu können, heiratet sie den vierunddreißig Jahre älteren Arthur Langen. Dieser wird kurz nach der Heirat arbeitslos und verlässt sie, als sie von einem anderen Mann schwanger wird. Von Georgs bestem Jugendfreund und Gretes Angebetetem Erhard? Oder von Georg selbst?
Die wahrscheinlich inzestuöse Beziehung der Geschwister wird nur angedeutet. Auch die Lyrik Trakls prägt den Roman zwar, wird aber nur wenig zitiert. So ist der Roman noch interessanter für diejenigen, die Georg Trakl schon kennen. Zwischen den Romankapiteln finden sich Ausschnitte aus Gretes Abschiedbrief an ihren Bruder. Grete und ihr Bruder leben lange getrennt, begehen beide Selbstmord. Ihr Schicksal und ihre Kunst sind dramatisch – und das umso mehr, weil sie den Zeitgeist zeigen. Als Expressionisten rebellieren sie gegen „ein Leben voller Strickstrümpfe und Kalbsbraten“ – und ernten Distanz, Unverständnis und einen Außenseiterstatus.
„Kotzen, das konnte man nur auskotzen. Und genau das wollte Georg ja: dass da lauter Buchstaben aus seinem vergifteten Mund kommen würden, die wie kleine Flammen auf das Papier fielen. Feuerstempel, die sich einbrannten zu Sätzen, zu Versen, die schonungslos sein würden.“ Georg schrieb Gedichte auch als Sühne für eine Schuld, die keiner verstand. Tatsächlich ist es nicht leicht, Georg Trakl zu verstehen. Aber nach der Lektüre von Beyer ist man zumindest fasziniert von seinem tollkühnen Leben. Man möchte einen Trakl’schen Gedichtband nehmen und diesen bewegter lesen als je zuvor.
Von Nora Lassahn
Literaturangabe:
BEYER, MARTIN: Alle Wasser laufen ins Meer. Roman. Klett-Cotta Verlag, Stuttgart 2009. 240 S., 18,90 Euro.
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