Von Dorothee Arndt
Wenn es um den kulinarischen Wert eines gelungenen Essays geht, sind die Geschmäcker bekanntlich unterschiedlich. Ich für meinen Teil, gebe ganz offen zu, ich erwarte etwas ganz und gar artistisches: Gedanken auf dem prophetischen Drahtseil, als wendige und biegsame Trapezkünstler oder als riesenhafte Stelzengänger, scheinbar schwankend, immer kurz vor dem Fall und sich dann doch haltend vor den erwartungsvollen Augen des Publikums. In dieser literarischen Manege, manche mögen den trockenen Begriff des Genre vorziehen, herrscht Narrenfreiheit. Ein guter Essayist darf und sollte der Narr am königlichen Hofe sein. Ist es doch eben seine Stellung, diese ganz besondere Sonderstellung, die es ihm erlaubt, der Wahrheit auf den Zahn zu fühlen, ohne mit den Konsequenzen rechnen zu müssen. Kurzum: als Essay bitte köstliche Unterhaltung und die Art von Ehrlichkeit, die sich nicht scheut, subtil an den Fundamenten ihres Fachs zu rütteln. Und bei allem Hand und Fuß, man will ja nicht gleich den Kopf verlieren.
Dass Hermann Kurzke, emeritierter Professor für Neuere Deutsche Literatur an der Universität Mainz, nicht nur Spezialist in Sachen Thomas Mann ist, sondern sich auch in allen Fragen rund um das kulturelle Gedankengut des Christentums im Allgemeinen und Kirchenlieder im Speziellen auskennt, erfährt man spätestens auf dem Einband seines neuesten Buches. Bei der Lektüre von „Die kürzeste Geschichte der deutschen Literatur und andere Essays“ kann man sich auf den knapp 270 Seiten gleich selbst davon überzeugen, dass Prof. Dr. Kurzke auch ein ganz wundervoller Essayist ist.
Eine ganze Wagenladung unterhaltsamer Abhandlungen führt er dem Leser in überschaubaren und akkurat sortierten Abteilungen vor: „Kurzkes Kanon“, „Die kürzeste Geschichte der deutschen Literatur“, „Porträts“, „Persönliches“ und „Vermischtes“. Alles, wie gesagt, sehr hübsch sortiert, genossen werden muss am Ende jedes Essay natürlich immer noch für sich allein. Hierbei kann man entweder Häppchen für Häppchen einen geistreichen Spaziergang durch die Landschaft der deutschen Literatur antreten oder sich seinen Lieblingsthemen gezielt zuwenden. Hermann Kurzke schreibt pointiert und geistreich. Der persönliche Plauderton ist bei allem Witz niemals stumpf und scheut weder die Auseinandersetzung mit dem doppelten Persönlichkeitsboden eines Erich Kästners noch die Wahrheit hinter dem geglätteten Abziehtext der Tagebücher einer Anne Frank. Und so schreibt Hermann Kurzke mit demselben leidenschaftlichen Eifer über Goethes „Wahlverwandtschaften“ wie über die inzwischen viel diskutierte Waffen-SS-Vergangenheit von Günter Grass.
Um noch einmal auf die Ehrlichkeit zurückzukommen, die kommt in dieser Essaysammlung nicht zu kurz. Man muss nicht immer mit Herrn Kurzke einer Meinung sein, aber sein Standpunkt ist doch immer interessant und nicht so leicht von der Hand zu weisen. Wenn er dem österreichischen Schriftsteller Adalbert Stifter eine „Langweiligkeit von grandioser Art“ für die Romansprache der Klassiker „Witiko“ und „Der Nachsommer“ attestiert, trifft dies einen Liebhaber dieser Werke mitunter schwer. Gleichzeitig muss auch das kurzweilig gekränkte Leserherz über Kommentare wie „Jede Fußsohle wird ausführlich abgerollt“ schmunzeln. Er hat ja nicht ganz unrecht.
Um es ein wenig altmodisch zu formulieren: Hermann Kurzke gibt sich als gerechter Kritiker und darüber hinaus als unterhaltsamer Essayist. Hier schreibt einer der die Literatur wie die Persönlichkeiten, die sie hervorbringt, gleichermaßen ehrt und sie nicht nur in einem intellektuellen, sondern auch persönlichen Rahmen zu fassen versteht und somit immer wieder aufs Neue zeigt, dass der Wert des Lesens nicht selten in der Qualität der Erfahrungen begründet ist, die man durch diese sammeln kann.
Literaturangabe:
KURZKE, HERMANN: Die kürzeste Geschichte der deutschen Literatur und andere Essays. Verlag C.H. Beck , München 2010. 272 S., 14,95 €.
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