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Langeweile ist fruchtbar

Jürgen Großes philosophisches Fachbuch „Philosophie der Langeweile“

© Die Berliner Literaturkritik, 12.08.08

 

STUTTGART (BLK) – Juli 2008 ist das Fachbuch „Philosophie der Langeweile“ von Jürgen Große beim J.B. Metzler Verlag erschienen.

Klappentext: Es gibt Stimmungen, die als günstige Voraussetzungen des Philosophierens gelten. Auch die Langeweile zählt dazu. Immer wieder schrieb man ihr eine Schlüsselstellung für Fragen nach Zeit, Sinn, Nichts und Übel zu. Pascal, Galiani, Schopenhauer, Kierkegaard und Heidegger befassten sich in ihren Werken mit der Langeweile. Der Band zeichnet diesen Weg nach und führt die zwei Problemlinien ‚Deutungen der Langeweile’ und ‚Erkenntnisgehalt von Stimmungen’ zusammen.

Jürgen Große ist promovierter Historiker und habilitierter Philosoph. Er lebt als Schriftsteller in Berlin. Jüngere Publikationen: „Kritik der Geschichte“ (2006), „Phänomenologie des Unglücks“ (2007). (vol/dan)

 

Leseprobe:

© J. B. Metzler ©

Einführung: Zur Metaphysik einer Stimmung

Langeweile ist in den westeuropäischen oder überhaupt westlichen Gesellschaften der Gegenwart ein vertrautes Phänomen. Deshalb verwundert es kaum, daß sie häufig zum Objekt empirischer Erforschung sowie therapeutischer Anstrengungen geworden ist. Daneben finden sich aber auch ausgesprochen metaphysische Bemühungen um die Langeweile. Man hat immer wieder in ihr einen Königsweg zur Totalität von Dasein und Welt, zu Sinnfragen wie Sinnmangelerfahrungen erblickt. Im vergangenen Jahrhundert kulminierte diese Tendenz bei so unterschiedlichen Denkern wie M. Heidegger und E. M. Cioran in ausgearbeiteten Philosophien der Langeweile.

Wie konnte, wie kann die Langeweile für Philosophen interessant werden? Die Frage eröffnet eine historische und eine theoretische Perspektive. Das theoretische Problem einer ‚Langeweile der Philosophen’ betrifft die Abgrenzbarkeit gegen ihre alltäglichen und einzelwissenschaftlichen Erscheinungsformen. Hierfür ist ein metaphysischer Ehrgeiz zu unterstellen, der sich anderweitig, z.B. in ‚traditionellerem’, onto-theologischem, vor allem aber: intellektualistischem Vokabular nicht mehr ausdrücken kann. Wenn statt dessen gewisse emotionale Zustände ergiebig sein sollen, so müssen sie selbst eine Transformation durchgemacht haben, die metaphysische Leistungsfähigkeit garantiert. Das führt auf den historischen Aspekt des Problems und zugleich auf die Arbeitshypothese der nachfolgenden Studien: Langeweile muß ihres anlaßbezogenen affektiven Status schrittweise entkleidet worden sein, muß vornehmlich als gegenständlich unbestimmte, dadurch aber metaphysisch deutungsfähige und -bedürftige Stimmung interessieren. Nur eine abstrakte, inhaltlich entleerte Stimmung kann  zum Metaphysik-Vehikel werden, beispielsweise als ein Phänomen, das die Bedingungen für Affizierbarkeit ihrerseits theoretisch verfügbar macht. Philosophischer Umgang mit der Langeweile bzw. ‚Leere’ bedeutet den methodischen Verzicht auf ihre reale zugunsten einer hermeneutischen ‚Füllung’, sie fordert ein Aushalten und Ausdeuten der Leere. Diese philosophische Substitution banalen ‚Zeitvertreibs’ wird metaphysisch um so ertragreicher sein, je aufwendiger die tatsächlichen – individuellen wie kollektiven – Bemühungen um einen Vertreib der durch Sinnleere lang geratenen Zeit schon geworden sind.

Langeweile ist nicht die einzige Stimmung, die zum Gegenstand metaphysischen Interesses wurde – dem philosophiehistorischen Gedächtnis sind weitere Kandidaten wie Angst oder Melancholie vertraut. Durchgehend ist aber die Tendenz zur formalisierenden und totalisierenden Behandlung von emotionalen Zuständen, sobald sie metaphysiktauglich werden sollen. ‚Langeweile’ wäre somit zu verorten in einer philosophischen Geschichte der Gefühle, die einerseits zu klären hat, wie es zur metaphysischen Aufwertung der ‚Stimmungen’ gegenüber den mehr akzidentellen, gegenständlich gerichteten ‚Affekten’ kam, und die andererseits die Prominenz ausgezeichneter Stimmungen wie eben der Langeweile plausibel machen müßte.

Kapitel I zeichnet den Aufstieg der Langeweile zur metaphysischen Schlüsselstimmung in einer zugleich theoretischen und historischen Interpretation nach. Hierzu wird die Eigentümlichkeit des philosophischen Umgangs mit der Langeweile im Vergleich zu ihrer alltäglichen Erfahrung wie ihrer einzelwissenschaftlichen Deutung herausgearbeitet. Letztere bildet zwar philosophische Zugangsmöglichkeiten, die denen der traditionellen metaphysica specialis entsprechen und noch heute – z.B. in Psychologie oder Anthropologie – das Verständnis von ‚Langeweile’ vielfach bestimmen (I.2.1). Der Aufstieg der Langeweile zur daseinsdeutenden Stimmung ergibt sich jedoch allein aus ihrem Anspruch, den einstigen Platz der metaphysica generalis – der Lehre vom Seienden als solchen – als Begründungswissen einzunehmen (I.2.2). Erst im Rückbezug auf deren Totalitätsanspruch wird verständlich, warum die ‚Langeweile der Philosophen’ sich nicht mit einer bloßen Komplementärfunktion gegenüber einer überlieferten, intellektualistischen Ontologie zufriedengeben konnte. Eine Metaphysik mittels Langeweile kann – wegen ihrer Stimmungsfundiertheit – nicht reine, weltentrückte Kontemplation sein. Sie kann und will aber auch nicht bloß eine weitere ‚Gefühlsphilosophie’ sein, sondern muß fundamentalontologisch jene Leere bzw. jenes Nichts dingfest machen, worin alles konkrete Seiende zu seinem Sinn und dieser zur Erfahrbarkeit kommen kann. In den elaboriertesten philosophischen Langeweiletheoremen ist erkennbar, weshalb das Staunen bzw. die Neugier nicht mehr als der ursprüngliche metaphysische Affekt gelten darf: In der anwachsenden Langeweile als philosophischer wie allgemein-kultureller Befindlichkeit bekundet sich eine Historisierung der Metaphysik selbst, die nurmehr als ‚Trümmerfeld’ (W. Dilthey) einseitig normativer oder kognitiver Sinngebungsakte erscheint. Allein als Ausdruck von Stimmungen – diesseits ihrer nun historisierten Sachgehalte – seien diese Sinngebungen noch nachvollziehbar. Philosophiegeschichte ohne diesen Rekurs auf sinngebende Grundstimmungen wäre buntscheckiges Einerlei, würde langweilen durch Beliebigkeit, könnte jedenfalls nicht das metaphysische Staunen hervorrufen. Langeweile gilt als eine Stimmung, die sowohl sich selbst als auch ihre Kompensate bzw. Füllungen hermeneutisch transparent machen kann.

Die Langeweile hat – aus ihrer semantischen Vorgeschichte als acedia, taedium, noia – eine schuldtheologische wie eine psychopathologische Konnotation, die sie erst in der entfalteten Neuzeit zu verlieren beginnt.

Kapitel II zeigt, wie sich die Transformation der Langeweile zum philosophischen Interpretationsinstrument für alle Lebensgebiete im Zeichen der Anthropologie vollzieht. Das Hauptinteresse gilt hierbei dem späten 18. Jahrhundert, jenem Zeitpunkt, da auch der Sinn- und der Zeit-Aspekt im Terminus ‚Langeweile’ sich endgültig zu dem modernen, bis in die Gegenwart gültigen Verständnis zusammenschließen. Eine des Sinns entleerte Zeit einerseits, Zeit als Verwirklichungsmedium des Sinns andererseits – diese thematische Verschränkung grundiert die Meditationen Kants, der Romantiker und später auch Schopenhauers über die Langeweile. Die Grundstruktur der neuzeitlichen Langeweile-Philosophie zeichnet sich ab, nämlich eine asymmetrische Polarität aus Substanz und Leerheit, aus affektiver Bewegung und affektloser Statik, aus sinngebendem Wünschen und stets leerlassender Befriedigung, die nurmehr ihrer geschichtsphilosophischen Ausdeutung harrt.

Ihr widmet sich Kapitel III, das hauptsächlich Autoren des 19. Jahrhunderts berücksichtigt. In dieser Epoche bildet sich die populäre wie die philosophische Erzählung von der Genese moderner Langeweile heraus, die bis heute wirkt. Es ist die Geschichte eines kontinuierlichen Emotionalitätsschwundes, die Affektivität und Affektlosigkeit jeweils auf eine systematisch ausgelegte Polarität von Vergangenheit und Gegenwart verteilt.

Die Geschichtsphilosophie der Langeweile ist somit nichts anderes als historisch angewandte Anthropologie: Der gelangweilte, von Leidenschaften entleerte Mensch muß diese in irgendeiner Vergangenheit vermuten. Geschichtsphilosophisch und nicht bloß geschichtlich ist die moderne Erzählung vom Affektivitätsrückgang insofern, als sie den Versuch einer Selbstanwendung einschließt. Der Anspruch, auch Gegenwart zu beschreiben wie eine Vergangenheit, die in der Retrospektive emotionale Tönungen annimmt (‚bunte Vorzeit’, ‚finsteres Mittelalter’ u.ä.), führt zur metaphysischen These von der Nichtigkeit bzw. Leere der Gegenwart. Diese ist nicht länger der Erscheinungsort von Sinn und Sein. Die Reflexion geschichtlicher Zeit scheitert in ihrer Selbstanwendung, denn die ‚Jetztzeit’ wirkt inhaltlich unbestimmt, ja eigenschaftslos. Die ‚Moderne’ weiß nichts von sich zu sagen, außer eben, daß nun sie an der Reihe ist, als ‚Jetzt-Zeit’ – wie Schopenhauer höhnisch bemerkte. So bildet sich der philosophische Begriff der Neuzeit als „einer durch die Zeitform als solche und nichts zudem bestimmbaren Konsistenz“, „als der Bedingung dafür, eine Gegenwart von ausgezeichneter Gewißheit bei kontingentem Erlebnisgehalt haben zu können“ (H. Blumenberg). Dieses Aufmerken auf die reine Zeitform bildet eine strukturelle Analogie zur Langeweileerfahrung. Im Ringen mit der Langeweile büßt eine Kultur ihren Willen zum rein kognitiven und voluntativen Selbst- und Weltverhältnis ab, wie es dem Autonomiebestreben des in praktischer und theoretischer Vernunft verfestigten bürgerlichen Ich entspricht. Dies bedeutet dann ein spezifisches Verhältnis zur Zeit und zu ihrem Sinn: Zeit ist inhaltlich nur negativ, als erinnerte Vergangenheit affektiven Weltverhaltens zu fassen, wird positiv fühlbar höchstens in der störungsfreien Kontinuität kultureller Projekte – und damit als Langeweile. Die Aspekte seiner Zeitlichkeit stehen dem Menschen hierdurch gegenüber wie Gegenstände des Wissens. In dieser Theoretisierung geschichtlicher Zeit verschwimmen Faktum und Interpretation ‚der Moderne’ als der durch Langeweile bestimmten Epoche – denn Modernität ist selbst bloße Formalbestimmung, schließt endlose Reflexivität auf sich selbst wie auf ‚ihr Anderes’, das Vormoderne oder Nicht-Moderne, strukturell ein. Im historischen Bewußtsein des 19. Jahrhunderts wie in der Kritik daran wird dieses Interesse an dem Anderen der inhaltsleeren Gegenwart ‚Moderne’ wiederum als Komplementärphänomen einer höchst betriebsamen Langeweile, Nichtigkeit, Substanzlosigkeit gedeutet. Die Langeweiledeutung verschlingt sich hier mit der Pessimismus- und Nihilismus-Diskussion: Langeweile illustriere musterhaft die nihilistische Verkehrung der Mittel zu Zwecken, namentlich einer emotionsbefreiten Reflexivität bzw. Rationalität zum Selbstzweck. Im Ennui als soziokulturellem Gesamtfaktum werde deutlich, inwiefern das neuzeitliche Vorhaben einer vernunftgefertigten Geschichte und eines planbaren Glücks aus kontingenzbefreiter Zeit, kurz: eines ‚Projekts der Moderne’, ins emotionale Nichts führe. Die Langeweile (und die zugehörige Sehnsucht nach Emotion, Gefühl, ‚Sensation’) ist dabei keineswegs nur negativ bewertet. Hat sich im rein intellektuellen Welt- wie Selbstverhältnis nicht die emanzipationsgeschichtliche Mission des Menschen erfüllt, seine gesamte Affektnatur zur vergegenständlichen, d.h. zu historisieren? Am Beispiel einiger inzwischen recht gering geschätzter oder fast vergessener Philosophen (v. Hartmann und Mainländer) läßt sich zeigen, wie sehr derlei Gedankengänge, wenngleich entdramatisiert, zum selbstverständlichen Bestandteil einer Alltagsmetaphysik der Langeweile in den westlichen Gesellschaften geworden sind.

Kapitel IV fragt nach dem Platz der Langeweile im philosophischen Gespräch der Gegenwart. Augenscheinlich ist man sich der metaphysischen Brisanz der Langeweileproblematik heute vor allem unter philosophisch aufgeschlossenen Fachwissenschaftlern bewußt. Die Ubiquität von ‚Langeweile’ als Generalhypothese bei der Erklärung von Enttäuschungserlebnissen und Gewaltphänomenen hat bei Soziologen, Psychologen, Kulturwissenschaftlern philosophische Hellhörigkeit, aber auch Skepsis befördert: Mit der Langeweile läßt sich allzu vieles deuten und erklären. Ihre alltägliche und fraglose Präsenz selbst bleibt das Rätsel. Die metaphysischen Möglichkeiten der Stimmungsanalyse haben im 20. Jahrhundert Existentialanalytik und lebensphilosophische Anthropologie wesentlich ausgeschritten. Wo gegenwärtig über Langeweile philosophiert wird, greift man überwiegend auf einzelwissenschaftlich geprägte Zugänge zum Thema zurück.

Die im Epilog versammelten Betrachtungen versuchen eine Synthese der zuvor gegebenen Antworten auf die Frage: Weshalb ist die Langeweile neuzeitlich derart daseins- als auch deutungsmächtig geworden? Drei Grundtopoi aus der Metaphysik der Moderne, nämlich Macht, Liebe, Arbeit, werden hierfür einer wechselseitigen Lesung unterzogen.

© J. B. Metzler ©

Literaturangaben:
GROßE, JÜRGEN: Philosophie der Langeweile. Verlag J.B. Metzler, Stuttgart 2008. 199 S., 39,95 €.

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