Von Frauke Kaberka
Die kleinen Wesen bekommen das große Elend am deutlichsten zu spüren: illegal adoptierte Babys, die den neuen Eltern von der Justiz – zum Teil noch nach Jahren – wieder entrissen und in ein Waisenhaus verfrachtet werden. Es ist eine schlimme, eine bewegende Thematik, derer sich Donna Leon in ihrem neuen Roman „Lasset die Kinder zu mir kommen“ angenommen hat. Und ihr Commissario Brunetti hat mit seinem 16. Fall eine harte Nuss zu knacken, die dem Gemütsmenschen schwer im Magen liegt. Und wie so oft geht der Staatsdiener – zumindest gedanklich – nicht immer konform mit festgeschriebener Law and Order. Nicht, dass er den Babyhandel nicht aufs Schärfste verurteilen würde. Vielmehr sieht er mit Sorge, dass, nur um Recht und Ordnung durchzusetzen, den Kindern mitunter ein schweres Schicksal droht.
Einfach unmenschlich befindet der Familienmensch Brunetti und ist sich darin einig mit seinen Kollegen. Nichtsdestotrotz geht er einem speziellen Fall auf den Grund: Einem bekannten Kinderarzt und seiner noch bekannteren Frau wird in einer Nacht- und Nebelaktion der Carabinieri das Baby weggenommen – nicht ohne Gegenwehr und Komplikationen. Das Baby war – wer ahnt es nicht längst – gekauft. Und über alles geliebt vom Dottore. Für seine zur Kinderlosigkeit verdammte Ehe sollte es die Rettung sein. Natürlich war er sich bewusst, gegen das Gesetz verstoßen zu haben. Dennoch kommen er und seine Frau glimpflich davon – das Baby allerdings sind sie los.
Donna Leon spinnt mehrere Handlungsfäden, die nach und nach aufeinandertreffen, sich verheddern und wieder entwirren – bis sie zu einem Bündel bitterer Wahrheiten zusammenschmelzen. Doch bis dahin lässt die gebürtige Amerikanerin ihre Leser wieder teilhaben am venezianischen Alltag mit all seinen sonnigen und Grautönen, mit Lebenslust und Tristesse. Der sympathische Brunetti mit seiner sympathischen Familie und seinen – nur zum Teil – sympathischen Kollegen ist wieder Mittel zum Zweck, Leons ganz persönliche Einstellung zu ihrer Wahlheimat Venedig und dem Land zwischen Mittelmeer und Adria darzustellen. Und so lässt sie sich – wie gewohnt augenzwinkernd – ebenso über die Unzulänglichkeiten wie auch die liebenswerten Schrullen der Italiener aus. Und dieses Mal bekommt sogar der neue Regierungschef und Medienmogul Berlusconi ungenannt sein Fett weg.
Was besonders an den Leon-Romanen im Allgemeinen und am 16. Brunetti-Fall im Besonderen gefällt, ist das Vermögen der Autorin, einen Kriminalroman allein durch Schilderung von Atmosphäre, Milieu und Charakterstudien spannend und unterhaltsam zu schreiben, ohne actiongeladen sein zu müssen. Verbrechen – ob Mord, Raub, Betrug oder Babyhandel – sind die Grundlagen eines Krimis, die Sprache der Leon und ihr Konstrukt drum herum aber machen ihn erst zum Roman.
Literaturangaben:
LEON, DONNA: Lasset die Kinder zu mir kommen. Commissario Brunettis sechzehnter Fall. Übersetzt von Christa E. Seibicke. Diogenes Verlag Zürich. 355 S., 21,90 €.
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