Der 40. Jahrestag der Revolten von 1968, die ja beileibe kein „deutscher Sonderweg“ waren, auch wenn das unsere Konservativen, die alten wie die neuen gern so sähen, hat zahlreiche Bücher hervorgebracht, die sich mit dem Phänomen „’68“ und mit den folgenden frühen siebziger Jahren befassen, der „bleiernen Zeit“, als die „Rote Armee Fraktion“ (RAF) – und andere umstürzlerische Gruppen – Morde und Entführungen organisierten, sich als revolutionäre Avantgarde gegen den „Schweinestaat“ begriffen und mit ihren Aktionen nicht nur die staatlichen Strafverfolgungsbehörden nachhaltig verstörten, sondern die ganze Gesellschaft, zumal die in ihr, die sich als „links“ verstanden. Bis in die Zeit kurz nach der Wende 1989 hielten die Anschläge an, eine „dritte“ Generation der selbsternannten „Kämpfer“ fuhr fort, ihr blutiges Gewerbe zu betreiben, nachdem die Erste und Zweite längst tot oder hinter Gefängnismauern verschwunden war. Noch immer sind nicht alle Täter gefasst, vor allem jene nicht, die die Attentate 1989/90 begingen. Die Bundesanwaltschaft hat noch einige Faszikel offen und die „bleierne Zeit“ wirkt fort, im Bewusstsein vieler Deutscher und in der Sicherheits-Hysterie so mancher Politiker, die – nach den Anschlägen auf das New Yorker World Trade Center – einen neuen Feind, den islamischen Terrorismus, im Visier haben.
Der Bundespräsident hat ein Gnadengesuch des inhaftierten Christian Klar am 7. Mai 2007 abgelehnt. Nun meldet sich in der fortwährenden Diskussion eine Stimme zu Wort, die jenseits der zu festen Schemata geronnenen Reaktionen eine andere, differenziertere Sicht auf die Ereignisse vorschlägt. „Wer über die RAF schreibt, über die eigene individuelle Geschichte mit der RAF, schreibt deshalb unwillkürlich und unumkehrbar auch immer über und gegen die individuellen und kollektiven Erfahrungen anderer mit der RAF.“
Carolin Emcke, die als Reporterin an vielen Orten der Welt, wo es brennt, Beobachtungen gemacht und darüber geschrieben hat, verdanken wir – neben zahlreichen Reportagen etwa im „Spiegel“ – das Buch „Von den Kriegen“, das sie als genaue und persönlich engagierte Autorin zeigt. Sie hat eine eigene individuelle Geschichte mit der RAF: ihr Patenonkel und väterlicher Freund Alfred Herrhausen (1930-1989) wurde wenige Wochen nach dem Fall der Mauer vor seinem Haus in Bad Homburg von einem Kommando der RAF mit einer Autobombe ermordet. „Es ist ein stockendes, seltsam suchendes Schreiben“, ein Text, der überwiegend aus Fragesätzen besteht, mit viel Raum dazwischen, so als wollte sie ihr eigenes Nachdenken durch die Leerzeilen auf den Leser übertragen. Man kann das als Monolog begreifen, aber auch als den Versuch, einen Dialog herzustellen: mit Tätern wie Opfern gleichermaßen, aber auch mit der Gesellschaft, die das nicht vollends Aufgeklärte wie eine Wunde an sich trägt, die mag verkrustet, gar vernarbt sein, vollends verschwunden ist sie nicht. „Ich kann nicht sagen, dass es immer gelingt, diese Suche nach einer genaueren Beschreibung der eigenen Wahrnehmung, die sich nicht vereinnahmen lassen möchte von den vorgeprägten Erzählungen.“
Es geht Emcke darum zu begreifen. Für sie macht nur das Begriffene die Trauer konkret. Sie hat achtzehn Jahre gebraucht, ehe sie zu schreiben begann: von den ersten Tagen nach dem Tod ihres Patenonkels, die sie in seiner Familie verbracht hat, bis hin in die unmittelbare Gegenwart. Und sie macht einen Vorschlag, der auf den ersten Blick absurd erscheinen mag: Amnestie für die Täter, die gefassten wie die noch unbekannten unter der Voraussetzung, dass sie reden: von sich, von ihren Vorstellungen, von ihren Taten, denen, die man ihnen zurechnen kann und denen, die noch im Dunkel liegen. Sie möchte die „Gewalt des Terrors“ und seine Sprachlosigkeit beenden. „Ich weiß nicht, ob sich die Täter jemals überlegt haben, was es heißt ‚abzutauchen’. Nicht vor der Staatsgewalt, nicht vor der Strafe, nicht vor dem Gefängnis. Sondern vor dem Gespräch, vor der Pflicht, Rede und Antwort zu stehen.“
Sie weigert sich, die Täter schlicht für „Kriminelle“ zu halten, „weil es aus der Perspektive der Täter ein absichtsvoller Mord ist, der sich nicht gegen eine private Person, sondern gegen einen Repräsentanten richtet“. Und fällt sich dann selbst ins Wort: „Gewiss, das ist politisch eine Chimäre, psychisch eine Projektion, ästhetisch eine Simplifizierung und moralisch – moralisch ist es einfach ergreifend falsch.“
Und dennoch, sie denkt weiter nach: „Bis heute ist es das, was ich verlange: ein Gespräch, in dem mir die Gründe auseinandergesetzt werden und in dem sich die Täter Einwänden und Kritik stellen. Bis heute ist es das, was ich unverzeihlich finde: das Schweigen.“
Immer wieder kreist sie um einen Versuch, die Täter und die Opfer in ein Verhältnis zu setzen, in dem es möglich wäre, dass die Täter zu sprechen begännen, den Mut aufbrächten, „Ich“ zu sagen und sich nicht hinter den vorgestanzten Formeln eines imaginären „Kriegs“ zu verstecken. Sie hat keinen der Gefangenen besucht, nur einmal, Jahre später, Silke Maier-Witt, die nach Verbüßung ihrer Strafe als Helferin ins Kosovo gegangen war, getroffen und war von ihr beeindruckt: aber dies private Gespräch genügt ihr nicht. Sie will ein Öffentliches, in dem alles auf den Tisch kommt, auch das, was die Strafverfolgungsbehörden bis heute verschweigen: die Ermittlungsfehler, die geheimdienstlichen Operationen, die Täuschungen der Bürger: einfach alles. Denn: „Die Stille verfestigt sich wie eine Eisschicht. Darin eingefroren vergeht die Zeit ohne uns.“
„Ich möchte keine Reue. Ich möchte, dass sie mir ihre Geschichte erzählen. Mit allem, was darin für mich schmerzlich sein mag. Das müsste ich aushalten. Aber dann erst wird der Mord an meinem Freunde vorstellbar. Erst dann wird die Phantasie aufhören, mich zu quälen. Ich brauche ihre Geschichte. Denn sie ist auch die meine.“
In immer neuen Anläufen und mit nicht nachlassender Inständigkeit verfolgt sie das, was bekannt ist von dieser „Geschichte“ (bei der so viel eben nicht bekannt ist) in all ihren Verästelungen, sie kennt das, versucht es einzuordnen in ein Puzzle, dem die Mitte fehlt, auf die alles ankommt; sie ist einem unbedingten, emphatischen Begriff der Aufklärung verpflichtet, im doppelten Sinn: dem alles ans Licht zu bringen und dem philosophischen, der die Menschen „aus selbstverschuldeter Unmündigkeit“ (Kant) führt.
Und darum wiederholt sie mehrfach ihre Forderung:
„Ich möchte, dass sie nach Hause gehen.
Wo immer das für sie sein mag. Aber sie sollen ihre Geschichte erzählen. Sie sollen gehen dürfen. Frei sein. So frei, wie man sein kann, wenn man Schuld auf sich geladen hat.
Freiheit gegen Aufklärung. Amnestie für das Ende des Schweigens.“
Das ist nicht sehr weit entfernt von den „Wahrheitskommissionen“, die Bischof Desmond Tutu in Südafrika durchgesetzt hat und deren Ergebnisse allenfalls teilweise zur Befriedung beigetragen haben. (Wir wissen nicht, was ohne sie passiert wäre!)
Wer dieses Buch mit seinen vielen Wendungen gelesen hat, wer sich dieser rigorosen Suche nach Wahrheit stellt, die auch schmerzliche Empfindungen in einem selbst lostritt, der begreift, was Carolin Emcke antreibt: eine rücksichtslose, erbitterte Suche nach dem, was Wahrheit ist – der ganzen Wahrheit womöglich, die doch nur der Himmel kennt – und rückhaltlose Empathie, die sie den Opfern schuldet. Denn auch sie sind durch dies Schweigen versehrt. Schließlich fordert sie auch die Selbsterforschung einer demokratischen Öffentlichkeit ein, die davon weiter entfernt zu sein scheint als jemals.
Und das, obwohl der Verfassungsrichter Winfried Hassemer, der mit ihrem Vorschlag sympathisiert, alle juristischen Einwände gegen ihren radikalen Vorschlag in einem Nachwort äußert, sich der Historiker Wolfgang Kraushaar, einer der besten Kenner der Materie, skeptisch äußert und noch einmal Tatsachen sprechen lässt.
Sie hat das zugelassen, es steht in ihrem Buch. Abbringen von ihrer Forderung wird sie beides nicht. Die Amnestie wird es nicht geben, die vollständige Aufklärung auch nicht, aber seit Emckes Buch wissen wir, dass beides heilsam wäre. Dass wir alle eine Chance verpasst haben und vermutlich weiter verpassen werden. Dass sie eine Stimme außerhalb des Chores ist, und doch eine, die wir brauchen und die heute schon das Reden über die „bleiernen Jahre“ verändert hat.
Das ist viel für ein Buch.
Literaturangaben:
EMCKE, CAROLIN: Stumme Gewalt. Nachdenken über die RAF. Mit Beiträgen von Winfried Hassemer und Wolfgang Kraushaar. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2008. 190 S., 16,90 €.
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