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Lebensläufe zweier Philosophen in Briefen

Briefwechsel Adorno/Horkheimer offenbart spannende Hintergründe

Von: ROLAND H. WIEGENSTEIN - © Die Berliner Literaturkritik, 26.01.07

 

 

1922 haben sie sich kennen gelernt: der 1895 in Stuttgart geborene Fabrikantensohn Max Horkheimer, der bereits 1925 zum Privatdozenten, 1930 zum ordentlichen Professor für Sozialphilosophie an der Frankfurter Universität und Direktor des „Instituts für Sozialforschung“ berufen wurde und der 1903 in Frankfurt geborene Theodor Wiesengrund, der seinem Namen den Familiennamen der Mutter, Maria Calvelli-Adorno auf deren Wunsch amtlich hinzufügen ließ, bis er, Jahrzehnte später, das Wiesengrund zu einem einfachen W. abkürzte: Theodor W. Adorno.

Folgenreiche Begegnung

Es war eine der folgenreichsten Begegnungen in der Philosophiegeschichte des 20. Jahrhunderts. Adorno hatte 1924 promoviert, sich 1931 habilitiert, und begonnen, im Institut und seiner Zeitschrift mitzuarbeiten. Horkheimer war 1933 bald nach der „Machtergreifung“ Hitlers in die Schweiz geflohen (in das er das Kapital der Stiftung, von der das Institut lebte, vorsichtigerweise transferiert hatte).

Der Privatdozent Adorno verlor 1933 die Lehrbefugnis und ging 1934 nach Oxford, er wollte dort als „advanced student“ noch eine Doktorarbeit schreiben, doch er kehrte in den folgenden Jahren bis 1937 immer wieder für kürzere Zeit nach Deutschland zurück, wo die promovierte Chemikerin Gretel Karplus in Berlin als Leiterin einer Lederfabrik arbeitete. 1937 haben die beiden in London geheiratet, mit Max Horkheimer als Trauzeugen. Erst 1938 sind beide Horkheimers nach Amerika gefolgt.

Als 2003 der hundertste Geburtstag des 1969 gestorbenen Adorno gefeiert wurde, gab sein Verlag gleich mehrere Bücher zu seinen Ehren heraus: den unendlich zärtlichen, liebevollen Briefwechsel des Philosophen mit seinen Eltern (denen es im letzten Moment gelang, der Judenverfolgung zu entkommen, erst nach Kuba, später in die USA) und zwei Bücher mit Memorabilien: eines, das genau das zum Inhalt hat, was sein Titel sagt: „Adorno in Frankfurt“ und eine aufschlussreiche Bildmonografie.

2003 begann auch die von Christoph Gödde und Henri Lonitz aufmerksam betreute und kenntnisreich mit Anmerkungen und Materialien versehene Gesamtausgabe des Briefwechsels zwischen Adorno und Horkheimer zu erscheinen, die erst 2006 mit dem vierten Band abgeschlossen wurde, insgesamt 3435 Seiten – einschließlich aller Supplemente und Register.

Der erste Brief datiert vom 2. Oktober 1927: Horkheimer berät den jungen Doktor, der sich da schon als Musikkritiker einen Namen gemacht hatte, in Fragen seiner ersten, bald darauf zurückgezogenen Habilitationsschrift. Erst mit dem zweiten, wieder von Horkheimer geschriebenen Brief vom 24. Februar 1932 beginnt dann eine lebenslange Korrespondenz, in denen das persönliche Gespräch immer dann fortgesetzt wurde, wenn die beiden nicht am gleichen Ort waren – und das war oft der Fall.

Fluchtpunkt New York

Adorno hoffte nach 1933 inständig, vom Älteren schnell an das nach New York ausgewanderte Institut berufen zu werden, musste sich aber gleichwohl auch nach anderen Möglichkeiten umsehen, sein Leben zu fristen, zumal die Geldüberweisungen der Familie infolge der immer restriktiveren Überweisungspolitik des NS-Regimes, die schon bald begonnen hatte, immer unsicherer und kärglicher wurden. Doch Horkheimer, bereits im sicheren Hafen (wenn schon mit großen finanziellen Einschränkungen, was die Gelder des Instituts betraf), glaubte, den Jüngeren am 25. Oktober 1934 mahnen zu müssen:

Es besteht kein Zweifel darüber, dass der Mangel an Beziehungen zwischen Ihnen und dem Institut für dieses einen Schaden bedeutet, denn Sie gehören notwendig mit zu uns. Andrerseits wird sich aber auch in Ihrer Entwicklung diese Trennung auswirken. Über beides bin ich recht traurig.

Adorno antwortete umgehend aus Oxford, Anfang November 1934:

Ich meine, wenn jemand Grund hätte, von uns beiden, sich vom anderen im Stich gelassen zu fühlen, so wäre ich es gewiss eher als Sie. Oder was anderes kann es bedeuten, dass beim Anbruch des dritten Reiches ich allein, vom Institut, in Deutschland zurückblieb, ohne jede Instruktion, was zu tun, wohin zu gehen.

Es hätte der Bruch sein können: aber beide waren schon so sehr aneinander attachiert, dass er abgewendet werden konnte: es war der einzige tief greifende Dissens in Jahrzehnten. Adorno blieb vorläufig in England. Er arbeitete besessen, nicht nur an der Husserl-Arbeit für Oxford, sondern auch an Kritiken und Essays für die Zeitschrift für Sozialforschung. Er lebte als möblierter Herr. Erst als Gretel Karplus nach der Hochzeit zu ihm zog, nahmen beide eine kleine Wohnung. Als Horkheimer sie im Juli 1937 dort besuchte, für kurze Zeit das persönliche Gespräch die Briefe ersetzen konnte (die oft Wochen brauchten über den Atlantik), schrieb Adorno nach der Abreise des älteren Freundes:

Kaum je und sicher nicht seit Ausbruch des Totalen bin ich so glücklich gewesen wie in diesen Wochen. Und wenn ich nur eines noch Ihnen nennen darf, wofür ich aufs Tiefste dankbar bin, dann ist es dies: dass ein Schriftsteller meiner Art, der die tiefste Einsamkeit und die prinzipielle Unmöglichkeit, das was er denkt und sagt, je einzufügen, sich zum a priori gemacht hat, nun plötzlich sich voll und real in eine bestehende und gute Kollektivität eingefügt sieht, ohne dass er sich darum ‚einfügen’ müsste; dass einer, der im Widerstand gegen den Markt einen seiner gründenden Impulse hat, zu guter letzt gerade das findet, was er am strengsten sich hat versagen müssen und wonach deshalb seine Sehnsucht aufs tiefste geht: dass er seine Produkte tauschen kann; das ist eine Erfahrung, die ich überhaupt nicht übertreiben kann.

Adorno in Princeton

Erst ein halbes Jahr später, zu Beginn des Jahres 1938, gelang der Sprung über den Ozean, Horkheimer hatte, um die angespannten Finanzen des Instituts möglichst zu schonen, Adorno einen Forschungsauftrag an der Princeton-Universität besorgt: eine Untersuchung über das Verhalten von Radiohörern beim Anhören von Musik. Leiter der Studie war der knochenharte Meinungsforscher Paul Lazarsfeld, dessen quantitative Methoden Adorno tief widerstrebten.

Der Krach war programmiert, aber Adorno war in New York und konnte mit Horkheimer gemeinsam an dem arbeiten, was ihnen beiden vorschwebte: ihrer Theorie des „dialektischen Materialismus“, jenem Werk, das die Widersprüche der idealistischen deutschen Philosophie, Hegels vor allem, ebenso „aufheben“ sollte, wie die des Marxismus, von dem beide schon Abschied genommen hatten, das „Café Marx“ der frühen Frankfurter Jahre war längst geschlossen.

Hatte Adorno noch von London aus geschrieben:

Einer der ernstesten Gründe, aus denen ich zutiefst froh bin, mit Ihnen zusammen sein können, ist der, dass ich glaube, dass man zusammen eher die Kraft haben wird, dem Entsetzlichen ins Auge zu sehen, ohne darüber den Rest von Weltvernunft zu verlieren, der sich zu uns geflüchtet hat…,

so gab es doch nur zwei Jahre eines intensiven Zusammenseins in New York. Bereits 1940 zog Horkheimer aus gesundheitlichen Gründen weiter nach Los Angeles. Adorno folgte ihm ein Jahr später, bis dahin gab es wieder nur die sehr zahlreichen Briefe.

New York, 10. Oktober 1941

Ach Max, jetzt endlich ist es so weit, und wir wollen es zusammen schaffen.

Gemeinsame „Dialektik der Aufklärung“

Was sie dann, ab 1941 wirklich „schafften“, war zwar nicht die in sich schlüssige große Theorie, aber doch die „Dialektik der Aufklärung“. In dieser Zeit trafen sie sich, wann immer das möglich war, jeden Tag, redeten miteinander, formulierten gemeinsam, von Gretel, die das Diktat aufnahm (und wahrscheinlich mehr als nur gelegentlich auch mitredete) unterstützt, und schrieben, jeder für sich, weiter an dem Gefundenen, korrigierten es in neuen Sitzungen. Sie haben immer darauf bestanden, dass das Buch beider gemeinsame Arbeit war, auch wenn Philologen durch Stilvergleiche den Anteil beider zu unterscheiden suchen.

Doch sie konnten sich nicht völlig auf ihre philosophische Arbeit konzentrieren. Das Institut mit seinen Zweigstellen in Los Angeles und New York initiierte und begleitete sozialwissenschaftliche Studien. In Zusammenarbeit mit Institutionen und Stiftungen entstanden Meinungsprofile von Studenten wie Arbeitern, die Untersuchungen über amerikanische Familien. Daraus wurde am Ende das, was als Typ der „Autoritären Persönlichkeit“ Ruhm erlangte: aus den in quantifizierten wie qualitativen Befragungen entstanden die A- und die F-Skala, die es erlaubten, Persönlichkeitsstrukturen und ihre Bedingungen zu analysieren. Manche dieser Studien wurden veröffentlicht, andere blieben bei den beteiligten Instituten unter Verschluss.

Amerika war im Krieg gegen den Nazistaat, wer wollte da schon von Inklinationen zu Antisemitismus, Rassismus, Autoritätshörigkeit und Konformismus bei den eigenen Bürgern etwas wissen; wer belehrt werden über die „Kulturindustrie“ und ihre Gleichschaltungstendenzen! Der ermüdende Kampf um Methoden und Finanzen spiegelt sich immer wieder in den Briefen der vierziger Jahre. Die theoretischen Spekulationen waren gegenüber der Pflicht, das Institut und die eigene Existenz durchzubringen, nur die leidenschaftlich betriebene Kür.

Kalifornisches Exil: Im „Weimar unter Palmen“

Vom Leben unter amerikanischen Intellektuellen und in der kalifornischen Emigrantenkolonie, von Treffen mit Thomas Mann, Lion Feuchtwanger, Brecht, Schauspielern wie Alexander Granach, Regisseuren und Hollywood-Produzenten, also dem gesellschaftlichen Umgang Adornos und Horkheimers, erfährt man spannende und komische Einzelheiten aus den Briefen, die Adorno alle 14 Tage regelmäßig an seine Eltern schrieb.

Noch aus der New Yorker Zeit stammt einer, der die gerade Angekommenen in Kuba erreichte:

Mittwoch  Abend hatten wir bei uns eine institutsoffizielle große Einladung, die äußerst glanzvoll verlief. Gestern waren wir bei Max und Maidon eingeladen, und es war sehr hübsch. Ich glaube nur, der gute Leo Löwenthal war etwas erstaunt über die Namen, mit denen wir uns anreden. Wir haben nämlich die Titel von Indianerhäuptlingen angenommen: Max heißt „Weiche Birne“, Gretel, im Zusammenhang mit einer älteren Tradition, „Drei Lämmergeier“ und ich schlicht: „Großes Rindvieh“.

Der Scherz dürfte Adorno eingefallen sein, ihm machten solche Spitznamen Spaß, er hatte schon seine frühen Musikkritiken manchmal mit dem Pseudonym „Hektor Rottweiler“, eine komische Komposition mit „Archibald Bauchschleifer“ gezeichnet, Gretel hieß auch „Giraffe Gazelle“, Horkheimer „das Mammut“ und seine Mutter redete er mit „Wundernilstute“ an. Solche Privatvergnügungen mögen uns heute seltsam erscheinen, angesichts der Situation in der sich alle befanden: der von Emigranten – voll tiefen Schreckens über das, was in Deutschland und Europa geschah, Sorgen um die eigene Existenz, und Sehnsucht nach der verlorenen Heimat – waren sie Zeichen eines tiefen Vertrauens, einer Art von Familienbande, an der sie alle festhielten, auch als die Lage sich wieder veränderte.

„Weiche Birne“ und „Großes Rindvieh“

Besonders aus den letzten Jahren gibt es immer wieder Briefe, die ihr Leben und die gemeinsame Arbeit betreffen, die Horkheimer mit dem Kürzel W.B. (für „Weiche Birne“) und Adorno mit G.R. (für „Großes Rindvieh“) unterzeichnete. Was als Scherz in einem übermütigen Moment begonnen haben mochte, geriet im Lauf der Jahre zu einer Art von Siegel, das die eigene Person und ihre psychische Verfassung charakterisierte: Adorno verbarg darin die Verzweiflung darüber, dass alle ihre ungeheuer scharfsinnigen philosophischen Überlegungen „in der Welt“ zu nichts führten, wie in den Wind gesprochen waren; Horkheimer verdeckte damit die Trauer darüber, dass er an das gemeinsame große Werk nicht mehr glauben konnte: Es blieb Fragment. So ist es ist kein Zufall, dass dieses Wort in den beiden bedeutendsten Werken der Emigrationszeit, der gemeinsam verfassten „Dialektik der Aufklärung“ und Adornos „Minima Moralia“ schon im Titel erscheint.

Dass wir überhaupt etwas von diesen beiden Büchern, die erst nach dem Krieg veröffentlicht wurden, auch aus den Briefen erfahren, in kryptischen Andeutungen und ausführlichen philosophischen Überlegungen, das verdanken wir den häufigen Trennungen. Horkheimer musste oft in der Zweigstelle des Instituts nach New York, um nach dem Rechten sehen und hielt dort Vorlesungen an der Columbia Universität. Adorno begab sich zur Überwachung der soziologischen Untersuchungen – inzwischen hatte er die Techniken der Meinungs- und Mentalitätsforschung sehr gut gelernt, sie entscheidend weiterentwickelt – nach San Francisco und Berkeley.

Das Vermögen des Instituts war (auch infolge der Unwägbarkeiten der Börse) zusammengeschmolzen, seine Mitglieder hatten alle auch noch „Nebenjobs“. Es wirkte wie eine Beschwörung, als Adorno im Juli 1948 aus Los Angeles an Horkheimer schrieb:

Ich glaube zu beobachten, dass unsere Dinge über Kulturindustrie eine besonders nachdrückliche Wirkung ausüben und habe viel nachgedacht über Ihr Desiderat, dass wir eine wirklich bündige und verpflichtende gesellschaftliche Theorie des ganzen Komplexes geben sollen. Mein Gefühl ist, dass wir heute so weit sind.

Daraus wurde nichts. Die Bedingungen änderten sich nach dem Ende des Krieges radikal. Für beide, Horkheimer wie Adorno, trat die Rückkehr nach Deutschland, an die Frankfurter Universität ins Blickfeld. Andere Mitglieder des Instituts arbeiteten längst für amerikanische Regierungsstellen. Noch zögerte Adorno und schrieb Horkheimer, der schon in Europa war, im Mai 1949:

Ihre Bemerkungen über Soziologie und den  Begriff der Gesellschaft kann ich mir ganz zu eigen machen. … Das Veralten des Begriffs Gesellschaft kann man beinah dem Wort anhören, das ganz nach neunzehntem Jahrhundert klingt und auf die vollkommen verdinglichte Form des Zusammenlebens heute, die Menschheit in ihrer negativen Gestalt, gar nicht mehr zutrifft. Positiv scheint mir die Überholtheit der Gesellschaft darauf hinauszulaufen, dass die Produktivkräfte einen Stand erreicht haben, der nicht nur die Herrschaft über andere Menschen, sondern wahrscheinlich sogar das alte Unrecht gegen die lebendige Natur überflüssig macht – dass die Naturbeherrschung einer Dialektik unterliegt, die sie am Ende selber aufheben mag. …Wenn es doch nur erst soweit wäre, dass wir ohne Druck sagen könnten, wozu wir nun einmal da sind.

Sprung zurück über den Ozean

Doch schon bald sollte Adorno selbst zu einer Erkundungstour nach Europa aufbrechen und Horkheimer, der in Frankfurt seine Professur wiederbekommen hatte, vertreten.

Paris, 28.10.49

Die Rückkunft nach Europa hat mit einer Gewalt mich ergriffen, die zu beschreiben mir die Worte fehlen. Und die Schönheit von Paris leuchtet durch die Fetzen der Armut rührender noch als je zuvor. Die hilflosen Versuche, dem anderen sich anzupassen, heben das womöglich noch mehr hervor. Was hier noch ist, mag historisch verurteilt sein und trägt die Spur davon deutlich genug, aber dass es noch ist, das Ungleichzeitige selber, gehört doch auch zum geschichtlichen Bild und birgt die schwache Hoffnung, dass etwas vom Menschlichen, trotz allem überlebt. Ich übersehe all das Negative nicht, den Mangel dicht unter der Oberfläche, das Rückständige. Aber was ist das alles dagegen, dass das Leben noch lebt. Gewiß möchte ich unsere Entscheidung nicht präjudizieren, aber meine Tendenz kann ich nicht verleugnen.

Die Tendenz hieß: Rückkehr, hieß: die Neugründung des „Instituts für Sozialwissenschaften“ an der Universität Frankfurt, hieß: ein Lehrstuhl auch für ihn. Als „außerplanmäßigen“ bekam er ihn 1950, aber erst 1953 wurde er zum ordentlichen Professor ernannt und in die Leitung des wiedererstandenen Instituts berufen.

Gleich nach seiner Rückkehr vom ersten Frankfurt-Besuch hatte er aus Kalifornien an Horkheimer geschrieben:

Wenn wir diese Professur erringen könnten, bedeutet es die Erfüllung eines Traums, den wir vor einigen Jahren für reine Gaukelei gehalten hätten. Es würde damit die einzigartige Situation geschaffen, dass zwei Menschen, die so quer zur Wirklichkeit sich verhalten wie wir, und eben deshalb zur Machtlosigkeit vorbestimmt erscheinen, eine Wirkungsmöglichkeit von kaum berechenbarer Tragweite geboten wäre. Wenn wir nämlich zwei Professuren statt bloß einer innehaben, schlägt Quantität wirklich in Qualität um; wir erhalten tatsächlich eine Machtposition. Nicht dass ich meinte, wie einem die Dummköpfe immer vorhalten, wir könnten die ganze Bewegungstendenz ändern; wenn es einen Neo-Faschismus geben soll, wird es einen geben und wenn die große Flut kommt, bilden auch wir keinen Damm. Aber die Sichtbarkeit, die in solcher Konstellation unsere  Verbindung gewinnt, wird auf die Einzelnen nicht ohne Bedeutung bleiben. Das ist ein Stückchen Ausdruck, das zu unseren theoretischen Arbeit hinzukäme, und mehr als je bin ich davon überzeugt, dass wir, wenn die Bedingungen einigermaßen günstig sind, drüben zu dieser Arbeit kommen werden.

Die erste Bilanz war positiv, aber schnell stellten sich bei Adorno, trotz der ihn begeisternden Arbeit mit den Studenten, auch Zweifel ein:

Die paar Tage, die ich jetzt von der Arbeit Distanz zu gewinnen konnte (ich entwickelte zuletzt den Begriff der Theorie der Gesellschaft als antagonistischer Totalität und damit, ohne das Wort zu verwenden, die Konzeption des dialektischen Materialismus) hat mir einiges Negative zum Bewusstsein gebracht, das ich im Enthusiasmus zu übersehen tendierte. Da ist vor allem das Scheinhafte der deutschen Demokratie, die nicht nur alle Politik zu einem Spiel macht, sondern allem, was überhaupt geschieht, etwas Unwirkliches und Schattenhaftes aufzwingt. Dass Deutschland, ja eigentlich ganz Westeuropa kein politisches Subjekt mehr ist, reicht bis in die feinsten Sublimierungen herein. Und ich kann mich auch dem nicht verschließen, dass die unbeschreibliche geistige Leidenschaft der Studenten, die mich ebenso anzieht wie Sie, auch ein Element des Abgeschnürtseins, ordinär gesprochen: der Ersatzbefriedigung hat, ganz Selbstzweck, eigentlich ohne Intention und vor allem ohne die Relation zur wahren Praxis, die uns am Herzen liegt. Natürlich kann man das umwenden, aber dass die gegenwärtige hektische Form des Geistes hier zunächst ein Regressionsphänomen ist, dem sollten wir uns auch nicht verschließen.

Beginn der „Frankfurter Schule“

Gleichwohl: Beide kehren zurück, nehmen ihre Lehrtätigkeit in Frankfurt auf – und haben Erfolg. Ihre Vorlesungen und Seminare sind überfüllt: Die Studenten (unter ihnen der Rezensent) hören Dinge, von denen sie sich nichts hatten träumen lassen. Als Adorno 1953 noch einmal ein Jahr in Kalifornien verbringen muss, weil er seine amerikanische Staatsbürgerschaft nicht verlieren will, schreibt er an Horkheimer:

So groß das Glück war, überleben zu dürfen, so wenig dürfen die vergangenen Bedingungen dieses Glücks zum Fetisch werden und die alte Regel, dass der Vertriebene zurückkehrt und sieht, was er ausrichten kann, scheint mir mehr Wahrheit zu enthalten, als die heute institutionalisierte Forderung des Gegenteils, die von den Spießbürgern vertreten wird, welche ihre gekränkte Menschenwürde als Vorwand des erbärmlichsten Konformismus missbrauchen. Ich glaube, dass es falsch wäre, wenn man ihren tausenderlei Rationalisierungen sich anheim gäbe, die uns unsere besten Regungen austreiben wollen. Noch jeder Kirsch im Schlagbaum hat mehr mit unserer Philosophie zu tun als Riesmans gesammelte Werke. Ich weiß nicht, wie weit ich in einer Sache, in der es buchstäblich um Leben oder Tod geht, für Sie und mich reden darf, obwohl ich es glaube, aber ich möchte lieber die Gefahr laufen, drüben totgeschlagen zu werden, als sonst etwas ‚aufzubauen’ oder selbst ins Privatleben mich zurückzuziehen, wobei die Entwicklung einen zu diesem Privatleben kaum kommen ließ…Im Grunde bin ich überzeugt, dass wir, so paradox es klingt, in Frankfurt mit all den Pflichten und all dem Verflochtensein ins Leben, mehr Ruhe finden werden, als in einer Existenzform, die von der Einsamkeit nur das negative Moment, die Isoliertheit hat.

„Der „Kirsch im Schlagbaum“ – das war eine Reminiszenz an die frühen Zeiten, als man in der längst ausgebombten Kneipe „Zum Schlagbaum“ einen Kirsch zu sich nahm. Und Riesman, das war der amerikanische Meinungsforscher mit den Bestseller-Auflagen.

Die Ruhe haben sie dann doch nicht gefunden. Das, was dann die „Frankfurter Schule“ hieß, war in der Tat eine „Macht“ geworden, eine Gegenmacht sowohl zur Heidegger-Schule als auch zu jener, schnell aus den USA importierten, bloß empirischen Soziologie. Die Briefe der späten Jahre, als beide die Studenten unterrichteten, sich heftig in Universitäts-Intrigen einmischten, das Institut auf gesunde Beine stellten, kaum zählbar viele Vorträge an anderen Universitäten, im Rundfunk, auf Tagungen und Kongressen hielten, verhinderten eine umfangreiche gemeinsame theoretische Arbeit.

Die Briefe wurden häufig zu Protokollen drängender äußerer Probleme. Das theoretische Element trat zurück, zumal als Horkheimer 1959 emeritiert wurde und sich nach Montagnola im Tessin zurückzog, Adorno die Last des Instituts allein schultern musste. Horkheimer hat weiter geschrieben, aber die amerikanischen Erfahrungen wie die in den ersten Nachkriegsjahren hatten bei ihm zu einem abgrundtiefen Pessimismus geführt, ihn erneut auf jenen Schopenhauer verwiesen, dem sein Interesse als junger Mann gehört hatte.

Dabei näherte er sich als Atheist religiösen Vorstellungen, wie sie Adorno in der von ihm (und Benjamin) als philosophische Kategorie betrachteten „Erlösung“ (der die letzten Sätze der „Minima Moralia“ gelten) anklingen. Horkheimers späte Schriften sind erst nach seinem Tod publiziert worden. Auch die „Dialektik der Aufklärung“, die 1947 in einem kleinen holländischen Verlag erschienen, später in Raubdrucken verbreitet wurde, erschien in Deutschland offiziell erst 1981: eine gleichsam clandestine Wirkung hatte sie längst entfaltet, sie wurde zu einem der Schlüsseltexte der Studentenbewegung. Horkheimer verfolgte diese mit steigendem Unbehagen, das sich in einem Brief aus Montagnola entlud, indem er das von Jürgen Habermas verfasste Vorwort zu einer vom Institut in Auftrag gegebenen Studentenstudie ebenso gründlich wie entschieden kritisierte und ablehnte:

Wer jenen Terminus, die Revolution, dazu noch in der Pose des ‚‚praktisch-politischen“ Philosophen, zum Kern seiner Theorie macht, preist, wenn auch ohne Absicht, die Diktatur. Es gibt Epochen, in denen es darauf ankommt, die Änderung womöglich zu verhindern, und nicht Geschichte zu machen. Was es heute zu verteidigen gilt, scheint mir ganz und gar nicht die Aufhebung der Philosophie in Revolution, sondern der Rest der bürgerlichen Civilisation zu sein, in der der Gedanke der individuellen Freiheit und der richtigen Gesellschaft noch eine Stätte hat. Den allgemeinen Reichtum so anzuwenden und auszubreiten, dass niemand mehr hungern muss, Sicherheit des Einzelnen zu schützen, den unendlichen Druck zu mildern, der auf allen lastet, dem Elend hinter Mauern Hilfe zu bringen, dazu können wir  vielleicht ein Weniges, kaum Spürbares tun, indem wir die Menschen gegen das Vorhandensein, das Hereinbrechen, die Wiederkunft der Barbarei drinnen und draußen empfindsam machen.

Maskottchen der Linken

Adorno blieb, trotz der Bürde der Ämter und einer Öffentlichkeit, die ihn bald als eine Art philosophischen Maskottchens einer aufgeklärten, ja linken Intelligenz ansah, als eine so beunruhigende wie faszinierende Erscheinung in einer stagnierenden Gesellschaft, unermüdlich tätig: auf all seinen Feldern.

Er schrieb die „Negative Dialektik“, kaum weniger pessimistisch als Horkheimer, er verfasste zahllose Essays zu philosophischen, musikalischen, psychologischen, soziologischen, literarischen Themen, war omnipräsent. Bis die Studenten ihn auf rohe und falsche Weise beim Wort nehmen wollten. An den alten Mitstreiter Herbert Marcuse, der sich ohne Wenn und Aber auf die Seite der revoltierenden Studenten geschlagen hatte, schrieb er in einem Brief, der erst nach seinem Tod aufgegeben wurde:

Die Meriten der Studentenbewegung bin ich der Letzte zu unterschätzen: sie hat den Übergang zur total verwalteten Welt unterbrochen. Aber es ist ihr ein Quentchen Wahn beigemengt, dem das Totalitäre technisch innewohnt.

Am 6. August 1969 ist er während eines Urlaubs im Schweizer Kanton Wallis gestorben. Am 7. Juli 1973 folgte ihm Horkheimer. Er starb auf einer Reise in Nürnberg. Die „Frankfurter Schule“ und die „Dialektik der Aufklärung“ wurden seitdem oft totgesagt. Die Werke beider bleiben gleichwohl in dem lebendig, was an ihnen nicht abgegolten ist, so lebendig wie der Briefwechsel zwischen den Philosophen, als Zeugnis eines Denkens, das Kritik zum Thema hat und Freundschaft bewährt.

Literaturangaben:
ADORNO, THEODOR W. / HORKHEIMER, MAX: Briefwechsel Band 1-4, Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2003-2006. 3456 S., Preis pro Band zwischen 38 € und 49,90 €.
ADORNO, THEODOR W.: Briefe an die Eltern, Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2003. 572 S., 39,90 €.

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Weblink zum Verlag:

Roland H. Wiegenstein arbeitet als freier Literatur- und Kunstkritiker für dieses Literaturmagazin. Er lebt in Berlin und Italien


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