Von Frauke Lengermann
Die Erzählungen, die Ulrike Almut Sandig in ihrem Prosadebüt „Flamingos“ versammelt hat, sind nicht leicht zu beschreiben. Sie sind genauso leichtfüßig und doch erdenschwer, bodenständig und doch voller Überraschungen wie die titelgebenden Flamingos – oder vielmehr, wie Sandigs poetische Kurzbeschreibung dieser ungewöhnlichen, krabbenfressenden Spezies, die dem Buch vorangestellt ist: „FLAMINGOS stehen in Gruppen, aber jeder Einzelne ist allein (...) Wir finden sie hässlich. Wir finden sie schön (...) Sie erwecken den Anschein, als wären sie gar nicht da. Sie sind aber da. Sie stehen mitten unter uns, und sie sind schwer. Doch auf der Oberfläche der seichten Gewässer laufen sie uns davon. Und dann fliegen sie auf.“
Genauso geht es einem mit den Geschichten, die die Leonce-und-Lena-Preisträgerin uns erzählt, und denen man deutlich anmerkt, dass die Autorin von der Lyrik herkommt. Sie erschließen sich in ihrem ganzen Tiefsinn, ihrer Vielschichtigkeit oftmals erst beim zweiten oder dritten Lesen, hier ist kein Satz überflüssig oder geschwätzig. Und noch erstaunlicher: trotz jedes einzelnen, wohl gesetzten Wortes sind die Geschichten voller Leichtigkeit, wenn man glaubt, sie verstandesmäßig vollständig erfasst zu haben, dann „fliegen sie auf“ – und lassen den Leser rätselnd und ein wenig wehmütig zurück.
Die elf Erzählungen handeln von Freundschaft, Verlust, Alter, unerwiderter Liebe, Tod; den großen Themen – in „Mutabor“ zum Beispiel wird die Geschichte einer intensiven Freundschaft zwischen zwei Mädchen, von denen das eine erblindet, erzählt; in „Flamingos“ geht es um einen kleinen Jungen, der seinen Bruder verloren hat; und „Damespiel“ berichtet aus dem Leben einer einsamen alten Frau. Bewunderungswürdig ist die Leichtfüßigkeit, mit der die 1979 geborene Sandig die verschiedensten Erzählerstimmen konstruiert, sie wechselt das Geschlecht, sie erzählt aus der Perspektive eines kleinen Jungen oder einer alten Frau. Häufig nehmen die Geschichten ihren Ausgang in einer potentiell realistischen Begebenheit oder Lebenssituation, und schwingen sich dann ins Märchenhafte, Phantastische auf, ohne dabei kitschig zu werden. Sandig findet sehr schöne Bilder, gerade im scheinbar Alltäglichen, Nebensächlichen, um Gefühle auszudrücken, um innere Wahrheiten und Welten zu umreißen, die manchmal – scheint es – wirklich nur in Bildern transportiert werden können.
Die phantastische Ausgestaltung der Geschichten ist nicht von solcher Konsequenz getragen, wie die Erzählwelten einer Amélie Nothomb, einer Angela Carter, oder den Vertretern des magischen Realismus (Marquéz etc.). Doch gerade die Gratwanderung zwischen überspitzender, allegorischer Ausgestaltung und scheinbar trivialen – und manchmal sehr tristen – Alltagsbezügen machen diese Geschichten so interessant. Mit „Flamingos“ ist Sandig ein lesenswertes Debüt gelungen, das man nicht so schnell vergisst.
Literaturangabe:
SANDIG, ULRIKE ALMUT: Flamingos. Schöffling & Co. Verlag, Frankfurt am Main 2010. 176 S., 17,90 €.
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