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Lemberg. Eine Reise nach Europa

Die „Urzelle einer europäischen Stadt“

© Die Berliner Literaturkritik, 11.06.09

BERLIN (BLK) — Im August 2007 ist im Ch. Links Verlag das Buch „Lemberg. Eine Reise nach Europa“ erschienen.

Klappentext: Politisch gehörte Lemberg einst zu Polen, dann als Hauptstadt Galiziens zu Österreich-Ungarn, nach 1918 wieder zu Polen, ab 1939 zur Sowjetunion und heute zur Ukraine. Im alten Europa bildete Lemberg einen Knotenpunkt wichtiger Handelswege und war von zentraler Bedeutung für das europäische Judentum. Diese Stadt der Lebensfreude, des geistigen und kulturellen Aufbruchs, der fruchtbaren Vermischung von Menschen aus unterschiedlichsten Kulturen, Religionen und Sprachen wurde im 20. Jahrhundert Opfer von Gewalt und Willkür: Zahllose Ukrainer verschleppte man nach Sibirien, über 100.000 Lemberger Juden kamen in die NS-Vernichtungslager, die polnischen Bewohner der Stadt wurden 1945 zwangsausgesiedelt. Erst heute werden Schönheit und Geschichte Lembergs wiederentdeckt. In historischen Betrachtungen und literarischen Texten vermitteln die Autoren ein lebendiges Bild dieser „Urzelle einer europäischen Stadt“ (K. Schlögel). (mül/köh)

Leseprobe:

©Ch. Links Verlag©

Nach Lemberg zu fahren, ist keine Kleinigkeit, egal, welches Verkehrsmittel man wählt. Knapp 900 Kilometer sind es von Berlin, keine 600 von Wien, aber die Fahrt mit dem Zug, etwa via Krakau, ist ebenso langwierig wie der Aufenthalt in der polnischen Grenzstation Przemyśl. Fliegen über Warschau oder Wien ist eine nicht ganz billige, die Ankunft im stalinistischen Dekor des Aeroport Lwiw dann allerdings eine unvergessliche Angelegenheit. Passagiere mit westeuropäischen Komfortansprüchen überschreiten, wenn sie sich auf den Weg in die Ukraine machen, die Grenzen vertrauter Terrains und Gewohnheiten. Warum also ist eine Reise nach Lemberg dennoch zugleich eine Fahrt in die Mitte Europas? „Die Frage ‚Wo liegt Lwow?’ lässt sich mit Landkarten und Kursbüchern beantworten. Die Schwierigkeit ergibt sich daraus, dass es sich um eine Stadt handelt, die eine doppelte Existenz führt: eine in unserem Kopf und eine wirkliche“, schrieb der Historiker und Publizist Karl Schlögel 1988.

„Nach Lemberg fahren“ ist auch der Titel eines Gedichtes des 1945 im sowjetischen Lwow geborenen, polnischen Dichters Adam Zagajewski. Ein bedrückender Text, der eine Reise nach Lemberg nur als Traumgespinst beschreiben kann. Für die polnischen Exil-Lemberger, die nach dem Willen der Sowjets ihr Leben nach 1945 im ehemals deutschen, jetzt polnischen Wrocław oder Głiwice fortsetzen mussten, gab es keine Chance, eine Reise in diese Stadt anzutreten: „Niemals sehe ich dich wieder, soviel Tod/wartet auf dich, warum jede Stadt/muss sie Jerusalem werden und jeder/Mensch Jude“, fragt Zagajewski. Diese Geschichte einer Vertreibung kannten wir noch nicht, als wir zum ersten Mal auf der Landkarte nachschauten, wo Lemberg eigentlich liegt. Uns war die Stadt bis zu diesem Zeitpunkt eher als eine Station der entgegen gesetzten Reiserichtung aufgefallen: als Transitbahnhof auf dem Weg von Ost nach West, aus dem galizischem Schtetl nach Wien, Berlin oder nach Amerika. Als Landmarke in Lebensgeschichten, die von Aufbruch und Unternehmensgeist, aber auch von Emigration und Flucht handelten: unter ihnen etwa die des Schauspielers Alexander Granach, des Schriftstellers Stanisław Lem oder des Architekten Simon Wiesenthal. Lemberg war für uns eine Stadt, die irgendwo in der Vergangenheit lag. Dort hatten Menschen gelebt, deren Kinder in Israel, Kanada, den USA und überall sonst auf der Welt geboren wurden. Sofern sie der Schoah entkommen waren. Gab es diese Stadt noch, gab es dort noch Spuren jüdischen Lebens? Was würde man noch vorfinden von der Pracht dieser Miniaturausgabe Wiens, der ehemaligen k.u.k. Landeshauptstadt? Was von dem eleganten Kultur- und Wissenschaftszentrum der Zweiten Polnischen Republik? Und wie würde sich diese Vergangenheit mit dem nervösen Alltag einer modernen ukrainischen Großstadt verbinden? Warum war 2004 gerade Lemberg zum wichtigen Schauplatz einer ungemein sympathischen, demokratischen Revolution geworden?

So sind wir vor zwei Jahren zum ersten Mal nach Lemberg gefahren. Und waren vom ersten Moment an fasziniert, weil uns alles ebenso vertraut wie fremd erschien. Wir fanden eine Stadt vor, die übersichtlich angeordnet war, als hätte man sie aus einem altmodischen Baukasten zusammengestellt: Rathaus, Markplatz, Altstadt, Boulevard, Theater, Kirchen und Bahnhof. Die Zeit schien seit Beginn des 20. Jahrhunderts stehen geblieben zu sein. Zugleich waren die Verletzungen und Zerstörungen, die diese Stadt und ihre Bewohner in eben diesem 20. Jahrhundert durchgemacht haben, allgegenwärtig: auf dem riesigen Wochenmarkt etwa, den man auf dem zerstörten jüdischen Friedhof errichtete. Beim Passieren des Viadukts an der wul. Zamarstynowa, der einst den Eingang zum Ghetto bildete und für unzählige Menschen direkt in den Tod führte. An den Mauern des Brygydki-Gefängnisses in der wul. Horodozdka, in dem ab 1939 eingesperrt, gefoltert und ermordet wurde, wer den wechselnden Besatzern der Stadt nicht ins Konzept passte. Und in der Krakauer Vorstadt, wo sich einst chassidische, reformierte und orthodoxe Synagogen gegenseitig den Platz streitig machten und heute nur noch verwahrloste Rasenplätze auf Leerstellen verweisen, die sich nie wieder schließen lassen.

Viele, die heute in Lemberg leben, haben in ihren Geschichtsbüchern darüber nichts gelesen, und sie sind hier auch nicht geboren. Über den Svoboda-Prospekt flanieren heute die Kinder der nach Sibirien verschleppten Ukrainer, die in ihre Stadt zurückkehrten, sobald es möglich war. Die Nachkommen von Kleinbauern und Landarbeitern, die man für eine Industrieproduktion in die Stadt holte, die heute schon wieder Vergangenheit ist. Und die Töchter und Söhne russischer Zuwanderer, die im Zuge der großen Völkerverschiebungen nach 1945 hierher kamen. Sie alle suchen heute einmal mehr nach einer neuen Zukunft in ihrem neuen Land, der Ukraine. Überall wird gebaut, renoviert und gefeiert, werden neue Cafés, Kneipen und Läden eröffnet. Menschen eilen zu allen Tageszeiten geschäftig durch die Stadt, auf holprigem Kopfsteinpflaster staut sich viel zu viel Verkehr. Wohin all das führen soll, weiß wohl noch niemand so genau. Dennoch trafen wir in Lemberg eine große Anzahl von Menschen, die sich mit Leidenschaft dem historischen Erbe dieser Stadt verschrieben haben. Als Künstler, Schriftsteller, Journalisten, Wissenschaftler, Sammler, Denkmalschützer, Fremdenführer sind sie auf der Suche nach einer Vergangenheit, von der hier oft nicht mehr die Menschen, sondern nur noch die Häuser erzählen können. Aus der Begegnung, den vielen Gesprächen mit diesen neuen Lemberg-Archäologen entstand schließlich die Idee und das Konzept für eine Ausstellung. Und für dieses Buch. Gemeinsam wollten wir die Erinnerung an eine Stadt, die einst in der Mitte Europas lag, in die Berliner Mitte zurückholen. Wenn es wahr ist, dass uns „auf den Bücherregalen die Menschheit umgibt“, so gilt dies für Lemberg in besonderem Maße.

Über Lemberg — das polnische Lwów, das russische Lwow und das ukrainische Lwiw — haben viele Autoren geschrieben, aus den unterschiedlichsten Blickwinkeln. Ihre Momentaufnahmen aus zwei Jahrhunderten bilden den ersten Teil dieses Bandes: von den ersten Reiseberichten österreichischer Beamter am Ende des 18. Jahrhunderts über Autoren wie Joseph Roth, Alfred Döblin oder Adam Zagajewski bis zu dem modernen ukrainischen Erzähler Juri Andruchowytsch. Für den zweiten Teil haben sich österreichische, polnische, deutsche und ukrainische — eben Lemberger — Autoren auf den Weg zu einem realen oder fiktiven Lokaltermin gemacht, erzählen aus dem Leben dieser Stadt an den unterschiedlichsten Schauplätzen: dem Buchmarkt, den Synagogen und Kirchen, Krankenhäusern, Theatern, der Universität oder den zahllosen Kneipen und Caféhäusern, für die Lemberg einst legendär war. Karl Schlögel hat Lemberg die „Urzelle einer europäischen Stadt“ genannt. Welche Kraft solche Städte in ihren besten Momenten entwickeln konnten, wird an den vielfältigen wechselseitigen Einflüssen und Strömungen sichtbar, die das kulturelle und akademische Gewebe der Stadt Lemberg vom Beginn des 20. Jahrhunderts bis in die Dreißigerjahre hinein prägten.

©Ch. Links Verlag©

Literaturangabe: SIMON, HERMANN (Hg.); STRATENWERTH, IRENE (Hg.); HINRICHS, RONALD (Hg.): Lemberg. Eine Reise nach Europa. Ch. Links Verlag, Berlin 2007. 256 S., 19,90 €.

Weblink:

Ch.Links Verlag


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