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Leonardo da Vincis Augen sehen anders aus dem Kopf

David Attenborough präsentiert den Naturblick der Frühen Neuzeit

© Die Berliner Literaturkritik, 26.09.08

 

Amerika war und ist nicht Indien, trotzdem heißen die dort lebenden Populationen bis heute Indianer. Und als solche gaben diese den Pflanzen und Tieren in ihrer Umgebung symbolische, metaphorische und bedeutungsschwangere Namen, kannten wie die Bewohner der alten Welt ihre innewohnenden Kräfte und Bedeutungen – und nutzten diese dann sinnvoll als Lebens- oder Überlebensmittel. Diese Form der Empirie ist seit Menschengedenken Teil des Miteinanders im phantastischen Zusammenspiel der unendlichen Ebenen organischen Lebens und natürlicher Harmonie.

Besonders aufregend wurde dieses ursprüngliche Entdecken für den interessierten und neugierigen homo sapiens als er sich in völlig fremdes Terrain wagte und nie zuvor gesehene Pflanzen und Tiere in voller Pracht und ihrer natürlichen Bestialität bestaunen und – wissenschaftlich unterlegt – beschreiben durfte. Kombiniert man jene Entdeckungsreisen mit einer mentalitätsgeschichtlichen Umwälzung und einer reformatorischen Neubesinnung wie sie Europa um das Jahr 1500 herum postuliert hat, ergeben sich gänzlich neue Sichtweisen vom selbstständigen und im Mittelpunkt stehenden Wissenschaftler, der plötzlich nicht mehr der Bibel und ihre Geboten untersteht, sondern primär sich selbst in seiner Beziehung zur Umwelt.

Die historischen Folgen sind bekannt, naturwissenschaftliche Akademien entwickelten sich neben neu ausgerichteten Universitäten, die im wahrsten Sinne des Wortes universal die Sinne schulten und zum Sammeln und Kartographisieren aufriefen. Der aus den Medien bekannte britische Wissenschaftsjournalist David Attenborough führt in diesem Sammelband federführend Regie und eröffnet dem Leser die Darstellung der Natur im Zeitalter der Entdeckungen.

Mit einem einführenden Essay und einigen erläuternden Texten steht er Susan Owens, Martin Clayton und Rea Alexandratos zur Seite und stellt exemplarisch den graphischen und kunstvollen Weg von der Renaissance bis zur frühen Aufklärung dar. Beginnend mit dem universalio schlechthin, Leonardo da Vinci, der selbst zwar noch keine fremden und exotischen Abbildungen präsentierte, aber besonders bedeutsam für die exakte, uns heute so vertraute wissenschaftliche Genauigkeit, gewesen ist.

Ihm folgen Essays über Cassiano del Pozzo, dem in dieser Hinsicht ersten europäischen Enzyklopädisten, der in seinem Papiermuseum über 7000 Blätter mit naturgetreuen Darstellungen sammelte, und Alexander Marshal, der im frühen 17. Jahrhundert eine beachtenswerte Sammlung einheimischer und aus der neuen Welt eingeführter Pflanzen zeichnete. Abschließend wird Maria Sibylla Merian, die berühmteste Pflanzenillustratorin und Etymologin ihrer Zeit, mit ihren wunderschönen Aquarellen porträtiert, womit das Buch zeitlich dann bereits im frühen 18. Jahrhundert, seinem Ausklang ankommt.

Allen Essays gemeinsam ist die vergnügliche Beschreibung historischer Fakten und Ereignisse, biographischer Daten der jeweiligen Protagonisten und einer umfassenden bildlichen Untermalung eben jener Schätze, die die Royal Library von Windsor Castle für diesen Band zur Verfügung stellte. Besonders gelungen ist diesbezüglich die Geschichte der Maria Sibylla Merian, die neben ihrer künstlerischen Fähigkeiten auch tatsächlich als konkret naturwissenschaftliche Forscherin in die niederländische Kolonie Surinam reiste und dort vor Ort und Stelle die entsprechenden Sammlungen, Beobachtungen und Bilder anfertigte.

Faszinieren kann in diesem Band vor allen Dingen das eben noch nicht vollständig aufgeklärte Bewusstsein der heute durchweg renommierten Wissenschaftler. So stellen Drachen nicht nur für Leonardo da Vinci eine unzweifelhafte Realität des Tierreiches dar, die ihre entsprechende Darstellung in seinen Zeichnungen widerspiegelt. Auch die noch jungfräuliche Anatomie der Tiere und Pflanzen wird ausschließlich durch eben jene hier vorliegenden Abbildungen in der Welt verbreitet und entspricht noch lange nicht dem Wissensstand der Moderne. Dennoch bleibt ehrwürdiges Staunen nicht auf der Strecke, denn sowohl die korrekte Annäherung als auch die künstlerische Qualität wissen die Rezipienten nicht nur vergangener Tage zu überzeugen.

So werden Kunsthistoriker, Universalisten und Enzyklopädisten an den – in dieser Zusammenstellung einmaligen – Farbtafeln und Nachdrucken eine fast schon kindliche Freude haben, zu sorgfältig und zu detailverliebt wird diese Mischung aus Bildband und historischem Essay nebst Biographie hier präsentiert. Allein der etwas imperialistische Grundton mag den Natur- und Menschenfreund von heute irritieren. Es waren keine Reisen oder gar Sammelausflüge in exotisches Neuland, die zwischen 1500 und 1750 vor allen Dingen in das neu entdeckte Amerika, wie Attenborough in seiner Einführung schreibt, begangen wurden, sondern mehr oder weniger bestialische Ausschlachtungen und Eroberungen. Ganz neutral und faktenorientiert gesprochen: der größte Genozid der Menschheitsgeschichte.

Dass damit einher eine unglaublich faszinierende Vielzahl von tierischen und pflanzlichen Entdeckungen ging, ist für vielfältige Bereiche der europäischen Moderne hilfreich (Ernährung und Medizin) und anregend (Naturwissenschaften) gewesen. Und wie spannend und zärtlich, aber auch bisweilen brutal (Tiere zerlegen und sektionieren, um die einzelnen Teile besser zeichnen zu können) diese Vorgehensweise gewesen ist, kann man hier eindrucksvoll nachempfinden. Beinhaltet diese Retrospektive auch das von den Autoren leider nicht deutlich beschriebene Eingeständnis der indianischen Ausbeutung, steht einer historisch korrekten und graphisch angenehm ausgestatteten Anamnese der Frühen Neuzeit nichts mehr im Wege.

Von Marco Gerhards

Literaturangaben:
ATTENBOROUGH, DAVID (Hrsg.): Wunderbar seltene Dinge. Die Darstellung der Natur im Zeitalter der Entdeckungen. Verlag Schirmer/Mosel, München 2008. 224 S., 49,80 €.

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