Von Caroline Bock
BERLIN (BLK) – Hartmut trägt eine Art Lendenschurz und Federschmuck am ganzen Körper. Er sei ein deutscher Indianer, erzählt er dem Publikum im „Bassy“, einem Country-Club in Berlin. Am Ende seines wilden Tanzes ruft er „Hugh“. Die Lesung kann weitergehen. Vorgestellt wird das Buch „Sozialistische Cowboys“, darin geht es um den Westernkult in der DDR. Ob im Flugzeug, im Bordell, auf dem Friedhof, im Restaurant, im Theater oder eben im Country-Club: Verlage gestalten Lesungen mittlerweile gern als Themenabende mit Event-Charakter. Aber auch die klassische Variante – den Autor mit Wasserglas am Pult, dazu ein Publikum auf harten Klappstühlen – gibt es noch.
Heutzutage strömen Zuhörer zu Lesungen wie zu Konzerten. Bastian Sick („Der Dativ ist dem Genitiv sein Tod“) und Charlotte Roche („Feuchtgebiete“) sind Beispiele für Stars im Lesezirkus: Bei den schlüpfrigen „Feuchtgebieten“ fallen Zuhörer schon mal in Ohnmacht, zu Sicks „Deutschstunde“ kamen 15.000 Menschen in die Arena in Köln. Autoren wie Jan Weiler („Maria, ihm schmeckt’s nicht!“), Wladimir Kaminer („Russendisko“) und Benjamin von Stuckrad-Barre („Soloalbum“) nutzten ihre Tourneen als Stoff für neue Texte.
Mit der Bahn in die Provinz, zu immer neuen Orten: „Ich habe nicht schlecht gestaunt, wie anstrengend das ist“, sagt Rowohlt-Mitarbeiterin Tessa Martin, die Martin Walser bei Auftritten begleitete. Schriftsteller wie Katja Lange-Müller und Feridun Zaimoglu absolvieren bis zu 90 Lesungen im Jahr, berichtet der Verlag Kiepenheuer & Witsch. Die Auftritte sind nicht nur ein Marketing-Instrument. „Lesungen sind meist die einzige Möglichkeit für den Leser, einen Autor live zu erleben“, erklärt Verlagsmitarbeiterin Eva Betzwieser.
Oft wird zusätzliche Prominenz als Zugpferd engagiert, das Publikum und die Presse sollen sich nicht langweilen. Als Jonathan Littell seinen NS-Roman „Die Wohlgesinnten“ im Berliner Ensemble vorstellte, versuchte Publizist Daniel Cohn-Bendit als Moderator, Littell aus der Reserve zu locken. Bei Autorin Katja Kessler („Das Mami Buch“) schaute Familienministerin Ursula von der Leyen vorbei – und schwärmte vom Geruch von Baby-Windeln.
Als Ariadne von Schirach aus ihrem Erstling „Tanz um die Lust“ las, gab es sogar eine kleine Striptease-Nummer in „Clärchens Ballhaus“ in Berlin. Susanne Fengler präsentierte ihren Roman „Heidiland“, in dem es um eine deutsche Schweiz-Pendlerin geht, auf einem Billig-Flug nach Zürich. Der italienische Krimiautor Gianrico Carofiglio lockte mit seinem Buch in einen Schießkeller der bayerischen Polizei. Norbert Kron war mit „Der Begleiter“ in einem ehemaligen Berliner Bordell zu Gast; sein Romanfeld ist ein Journalist, der bei einer Escort-Agentur anheuert.
„Sicher haben sich Veranstaltungen rund ums Buch in den vergangenen Jahren eher hin zum Event verändert“, sagt Claudia Hanssen vom Goldmann Verlag. Doch es gebe, vor allem im literarischen Bereich, auch den gegenläufigen Trend, der sich wieder stärker auf Inhalte konzentriere. Ob ein Verlag eine Diskussionsrunde, eine eher puristische Lesung oder eine Party mit Lesung organisiert, hängt laut Hanssen vom Genre, vom Text und vom Autor ab. „Grundsätzlich lässt sich aber sagen, dass Verlage heute sehr viel mehr Arbeit und intensivere Vorbereitungen in Autorenveranstaltungen investieren als früher.“
Der Suhrkamp Verlag, der für die „Sozialistischen Cowboys“ von Friedrich von Borries und Jens-Uwe Fischer warb, holte neben dem deutschen Indianer einen DDR-Countrystar auf die Bühne – dieser sang und erzählte von einem Jodelwettbewerb im Harz. So wurde es ein unterhaltsamer Abend für das Publikum. Dazu fanden sich gute Bilder für die Fernsehkameras, die sich sonst in Literatursendungen mit Szenen von Dichtern auf Parkbänken im Herbstlaub begnügen müssen.