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Liao Yiwu darf erstmals reisen

Ein Zeuge des „wahren“ Chinas

© Die Berliner Literaturkritik, 17.09.10

Von Andreas Landwehr

PEKING/BERLIN (BLK) - Liao Yiwu wirkt nervös und aufgewühlt, als er in der Nacht zum Mittwoch in Peking endlich im Flugzeug nach Deutschland sitzt. „Gleich geht es los“, flüstert der chinesische Schriftsteller und Poet kurz vor dem Start ins Handy: Erstmals in seinem Leben darf Liao Yiwu seine Heimat verlassen.

14 vergebliche Versuche hat der 52- Jährige schon hinter sich. Noch im März hatte ihn die Polizei in seiner Heimatstadt Chengdu in Südwestchina kurz vor dem Start wieder aus dem Flugzeug geholt, obwohl sich die Bundesregierung wiederholt für seine Ausreise eingesetzt hatte.

Bis zuletzt kann es Liao Yiwu nicht glauben, dass es jetzt klappen soll. „Niemand hat mich diesmal aufgehalten“, sagt er. In Berlin will der Autor am Internationalen Literaturfestival (ilb) teilnehmen, das am Mittwoch begonnen hat. Auch geht es zum Harbourfront-Festival nach Hamburg. Er ringt nach Worten: „Ich bin aufgeregt, eine Grenze zu überschreiten und an einen Ort zu gelangen, den ich nicht kenne und wo meine Bücher von vielen Menschen gelesen werden. Ich möchte sie kennenlernen.“

Wohlbehalten traf er am Mittwoch in Berlin ein. „Wir sind sehr glücklich, dass es uns gelungen ist, Liao Yiwu erfolgreich nach Deutschland einzuladen und die chinesische Regierung seiner Ausreise zugestimmt hat“, teilt der Berliner Festivalchef Ulrich Schreiber mit. In Deutschland hat Liao Yiwu eine große Fan-Gemeinde, seit sein Buch „Fräulein Hallo und der Bauernkaiser: Chinas Gesellschaft von unten“ erschienen ist.

Es ist eine 544-seitige Sammlung von Gesprächen mit einfachen Menschen und Außenseitern, die ein komplexes Bild vom „wahren“ China zeichnen. Es kommt so mancher zu Wort, den es im offiziellen China am liebsten gar nicht geben sollte: die Prostituierte, der Obdachlose, Menschenhändler, Toilettenmann, Totengräber oder der desillusionierte Funktionär, der vom Kannibalismus im Hunger nach dem missglückten „Großen Sprung nach vorn“ Ende der 50er Jahre berichtet.

„Ich denke nicht, dass ich ein politischer Autor bin, sondern vielmehr ein Zeitzeuge“, sagt Liao Yiwu. In zehn Jahren hat er mehr als 300 Menschen interviewt und ein einmaliges Zeitdokument geschaffen. „Ihre persönlichen Erfahrungen stellen die Geschichte des Landes, des Volkes und der Gesellschaft dar.“ Liao Yiwu fühlt mit ihnen. In Armut ist er aufgewachsen, hat das Chaos und die Verfolgung der Kulturrevolution (1966 bis 1976) erlebt. Nach der Schule schlug sich Liao Yiwu durch, reiste durch China und begann - inspiriert von westlicher Lyrik - mit Gedichten.

In den 80er Jahren galt Liao Yiwu als einer der bedeutendsten jungen Dichter Chinas. Wegen seiner kritischen Inhalte war er dem System früh ein Dorn im Auge. Am Abend der blutigen Niederschlagung der Demokratiebewegung am 4. Juni 1989 schrieb Liao Yiwu das Gedicht „Massaker“ (Da Tu Sha). Er wusste, dass es nie veröffentlicht werden dürfte, machte eine Tonbandaufnahme davon, die sich im Untergrund verbreitete. Eine Filmaufnahme, wie er das Gedicht rezitiert, wurde im Ausland veröffentlicht. Wegen „Verbreitung konterrevolutionärer Propaganda“ verschwand Liao Yiwu deswegen vier Jahre in Haft.

Nach seiner Freilassung 1994 war Liao Yiwu ein Ausgestoßener. Seine Frau hatte ihn mit dem gemeinsamen Kind verlassen. Er arbeitete als Musiker und Tagelöhner. Dabei interviewte er die Menschen, die ihm am Rand der Gesellschaft begegneten, dokumentierte eine historische Zeit. „Ich glaube, dass die Geschichte, die ich aufgeschrieben habe, in vielen Jahren berücksichtigt wird, wenn die Menschen über diese Zeit Bescheid wissen wollen.“ In China ist sein Buch verboten. „Auch wenn ich nicht veröffentlichen darf, gibt es viele Raubkopien auf dem Markt.“

Er durfte weder zur Frankfurter Buchmesse 2009 mit dem Gastland China, noch zum Literaturfest nach Köln. Er bat Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) in einem Brief um Hilfe: „Sie sind deutsche Kanzlerin und Sie wissen aus eigener Erfahrung, was Diktatur bedeutet.“ Er will keineswegs Asyl, sondern nach China heimkehren. Der Asienbeauftragte der Bundesregierung, Cyrill Nunn, traf ihn im März in Chengdu. Wenige Tage später wurde Liao Yiwu trotz gültigen Passes und Visums wieder in letzter Minute an der Ausreise gehindert. Es bedurfte weiterer, „hochrangiger Interventionen“, wie es heißt, bis der Literat endlich im Flugzeug sitzt und über Handy verkündet: „Ich fliege nach Berlin.“


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