Von Roland H. Wiegenstein
Ein Gedicht allein aus dem „Text“ zu verstehen, das gilt als Königsweg des tieferen Verständnisses, vor allem für hermetische Texte, die sich am Ende eher der Meditation erschließen als anderen Vorgehensweisen, es gilt in besonderem Maße für die Gedichte Paul Celans, über die sich die Interpreten seit Jahren beugen. Es bedarf jedoch auch handfesterer Methoden. Darauf weist Brigitta Eisenreich in ihrem schönen Buch „Celans Kreidestern“ hin, das die wachsende Zahl von Veröffentlichungen aus dem Spätwerk und den Briefwechseln des Dichters ergänzt. Die 1928 geborene Autorin hat lange gezögert, ihre Erinnerungen zu publizieren. Sie nennt sie einfach „Ein Bericht“. Erst als in den öffentlichen Archiven immer mehr Spuren von ihr auftauchten, hat sie sich entschlossen, „ihre Geschichte“ preiszugeben und von Celans Sohn Eric und dem Celan-Herausgeber Badiou gegenlesen zu lassen. Denn: „Der Grund dieser meiner Abseitigkeit im Freundeskreis lag nicht nur in der Natur unseres Verhältnisses, sondern auch in Celans Wesen: Neben seiner Kunst zu verzaubern war Diskretion eine seiner Haupteigenschaften und zwischen uns galt lange Zeit hindurch die stillschweigende Übereinkunft, dass unsere Lebenswege, mitsamt allen dazugehörenden Beziehungen notwendig getrennt verlaufen mussten, in der Verschwiegenheit.“
Brigitta Eisenreich war 1952 als Au-pair-Mädchen nach Paris gekommen. Es war ihr Bruder, der Schriftsteller Herbert Eisenreich, der sie im gleichen Jahr mit Celan bekannt machte. Er erzählte ihr auch, als er sie in Paris besuchte, von der Niederlage, die Celan kurz zuvor als Gast der „Gruppe 47“ erlitten hatte, als die versammelten Literaten ihn mit harscher Kritik überzogen, nachdem er seine Gedichte gelesen hatte. Die beiden mussten einander sofort gefallen haben: die gebildete, in Linz und Enns in Oberösterreich aufgewachsene junge Frau und der heimatlose Dichter, der sich Paris gewählt hatte, wo er sich als Übersetzer und Deutschlehrer an der Universität durchbrachte.
Er besuchte sie in ihrer Dachkammer und es begann eine Liebesbeziehung, die fast ein Jahrzehnt dauerte. „Von allem Anfang an war mir klar, gerade zu schlagartig, dass ich in etwas Schweres hineinging, das es sich um keine Liebschaft der Art handeln konnte, deren Ort, Namen, Umstände, wenn ihre Zeit vorbei war, man leicht vergessen könnte.“ Celan kam selten zu ihr; wenn sie nicht zu Hause war, hängte sie ein weißes Tüchlein ins Fenster, später brachte sie ein Täfelchen an der Tür an, auf das er einen „Kreidestern“ zeichnete, wenn er sie nicht angetroffen hatte.
Brigitta Eisenreich erfuhr bald, dass Celan gerade Gisèle de Lestrange geheiratet hatte und dass eine frühere Beziehung mit Ingeborg Bachmann keineswegs zu Ende war. Sie war sozusagen seine deutsche Stimme in Paris, im buchstäblichen Sinn des Wortes. Sie konnten gemeinsam die Sprache sprechen, die seit je die seine war. Es muss für ihn eine Art von Befreiung gewesen sein, ihre Stimme zu hören, ihr seine Gedichte im Original vorzulesen, mit ihr darüber deutsch zu reden.
Und für sie: Ein schmerzhaftes Glück. Gleichwohl dürfen wir annehmen, dass sie ihm meist (wenn schon mit den Jahren immer seltener) als jemand entgegentrat, mit dem er heiter und unbeschwert sein konnte, ehe diese verfluchte Goll-Affaire, von der wir heute wissen, dass sie ihn erschütterte wie nichts anderes, ihn auch bei seinen Begegnungen mit Brigitta kaum zu Atem kommen ließ. Sie war natürlich auf seiner Seite, besaß sie doch den „Beweis“, den ersten, nur noch in wenigen Exemplaren vorhandenen ersten Gedichtband Celans „Der Sand aus den Urnen“, den der Dichter lange vor der Begegnung mit Yvan Goll und dessen böser Frau Claire geschrieben und aus dem die beiden sich bedient hatten. Sie wusste, wer der Plagiator war, nämlich Claire, die den jungen Paul, der eine Zeit lang bei Yvan gearbeitet hatte, schamlos literarisch bestahl (in Golls von ihr nach dessen Tod herausgegeben Gedichten und in eigenen in der Manier ihres Mannes). Doch eine „Richtigstellung“ die Brigitta Ende 1960 konzipierte und die sie Celan zu lesen gab, ist nie erschienen – er wollte das nicht mehr, nachdem Claire Golls Verleumdungskampagne hohe Wellen geschlagen hatte und bis in deutsche Tageszeitungen („Die Welt“) vorgedrungen war, sich aber unter deutschen und österreichischen Literaten und Literaturwissenschaftlern nur wenige – und die oft halbherzig – mit dem Dichter solidarisierten. Er hat, in den meisten Fällen zurecht, das, was ihm da widerfuhr, für geheimen oder sogar offenen Antisemitismus gehalten. Der „Fall“ ist inzwischen „aufgeklärt“. Seine Folgen sind bekannt: Celans Freitod 1970 in der Seine.
Da war die Liebesbeziehung längst zu Ende, Brigitta hat 1963 geheiratet und ist eine angesehene Ethnologin geworden, die als Brigitta Rupp-Eisenreich an französischen Instituten geforscht, gelehrt und publiziert hat: eine Person eigenen Rechts. Pauls merkwürdiger, ohnmächtiger Versuch, die Geliebte mit seiner Frau zusammenzubringen, musste scheitern (wie auch der mit Ingeborg Bachmann unternommene.) Es gab für ihn wohl keinen Ausweg mehr. Eisenreichs Beobachtungen über den psychischen Zustand des Dichters sind vorsichtig, diskret, aber sie mag an klinische Befunde nicht recht glauben. Aus ihrer Sicht war für ihn sein Jude und Überlebender zu sein, der wichtigste Grund seiner „Krankheit“, auch wenn Kliniken ihm anderes bescheinigen wollten.
Was an diesem „Bericht“ überzeugt, ist die distanzierte Nüchternheit, mit der eine alte Frau auf diese wichtige Phase ihres Lebens zurückblickt, mit welch nüchterner Liebe - ja, Liebe! - sie den Gefährten von einst zu sehen vermag, und über ihrer beider literarische Zusammenarbeit (ja, es war eine!) schreibt. Auch ihre eigenen Gedichte und Übersetzungsversuche, die sie während ihrer gemeinsamen Zeit gemacht und von ihm hat korrigieren lassen sind in dem Buch abgedruckt. Er hat sie ermutigt, aber nachher hat sie nie mehr Gedichte geschrieben. Ihre Verse zeigen Celans Einfluss und sind doch anders: irdischer, fester, wenn man will: naiver und von eigenem Rang.
An Hand von Gedichten, die Celan ihr gewidmet hat, werden biografische Details deutlich und damit auch Celans Verfahren: jedes Erlebnis, jede Begegnung wurde von ihm bewahrt und in anderem Zusammenhang verwendet, meist bis zu Unkenntlichkeit des Anlasses verändert. Wie sehr es dennoch „reale“ Anlässe waren, die seine dichterische Imagination in Bewegung setzten (und wie sinnvoll es ist, danach zu suchen), wie sehr erlebte Wirklichkeit umgeschmolzen wurde in Verse, selbst die arkanen, das kann man bei Eisenreich erfahren, die allzeit mit offenen Augen und Ohren durch die Welt der Poesie ihres Freundes gegangen ist.
Auch die entscheidende Frage des Jude-Seins und die verzweifelten Versuche, die, die er liebte zu „verjuden“, sie sich als Juden vorzustellen, wird von Brigitta aufgegriffen und so klug wie bescheiden wenn schon nicht beantwortet, so doch „erzählt“. Ihre Liebe war ohne Besitzansprüche und umso hellsichtiger. Für alle, die Celans Werk schätzen, ist dieses Buch eine wichtige Quelle – und eine gut lesbare dazu.
Literaturangabe:
EISENREICH, BRIGITTA: Celans Kreidestern. Suhrkamp Verlag, Berlin 2010. 266 S., 22,80 €.
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