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Liebeserklärung an die Musik

Das Geheimnis ihres Glücks, ihrer Ausgeglichenheit und ihres Lebens

© Die Berliner Literaturkritik, 16.07.09

MÜNCHEN (BLK) – Im Februar 2009 ist im Carl Hanser Verlag „Passione. Liebeserklärung an die Musik“ von Elke Heidenreich erschienen.

Klappentext: Eine Ode an die Oper: Elke Heidenreich erzählt von der Musik, von den Figuren auf der Bühne und ihrer Leidenschaft, vor allem aber immer wieder vom Hören. „Die großen, Jahrhunderte überdauernden Themen sind diese beiden: Liebe und Tod“, sagte Heidenreich bei der Eröffnung der Salzburger Festspiele 2008. In diesem Sinne versucht sie Hörer und Zuschauer für die großen Werke der Oper zu gewinnen. Fern jeder trockenen Belehrung zeigt die Kritikerin, Moderatorin und Librettistin Elke Heidenreich, dass Musik etwas ist, das jeden angeht, und von etwas spricht, was jeden in seinem eigenen Leben zutiefst betrifft.

Elke Heidenreich ist 1943 geboren und lebt in Köln. Sie studierte Germanistik, Publizistik, Religionswissenschaft und Theaterwissenschaft und arbeitete bei Hörfunk und Fernsehen. Zuletzt erschienen beim Carl Hanser Verlag „Der Welt den Rücken“ (2002), „Rudernde Hunde“ (2002) und Passione. Liebeserklärung an die Musik (2009). (rud/ber)

Leseprobe:

©Carl Hanser Verlag©

Oper ist Aufruhr

Noch eine Liebeserklärung

Mitte der 50er Jahre, ich war dreizehn Jahre alt, habe ich meine erste Oper gehört. Das war in Essen, nicht lange nach dem Krieg, der die Städte und die Eltern zerstört hatte. Die Väter waren an Leib und Seele beschädigt aus Russland, Frankreich, Italien zurückgekommen, die Mütter hatten in den Bombennächten Zärtlichkeit verlernt, Schönheit galt nichts, Poesie war unbekannt, das Zauberwort hieß Wiederaufbau. Wir im Krieg gezeugten und geborenen, höchst überflüssigen Kinder hatten unsere Schulaufgaben zu machen und ansonsten den Mund zu halten. Eine Seele, eine Sehnsucht, eine eigene Meinung wurde uns nicht zugestanden, nicht zuletzt darum sind wir dann 1968, mit Mitte zwanzig, so entschieden explodiert. Wie hätte ich damals in Essen wissen sollen, was eine Oper ist? Für so etwas war kein Geld da. Ich hatte Akkordeonunterricht bei einem alten Nazi, der mir Marschmusik wie „Alte Kameraden“ oder das „Horst-Wessel- Lied“ beibrachte. Weihnachten musste ich das den Vätern, Onkeln, Großvätern vorspielen, und dann redeten sie von Polen und ihren entsetzlichen Abenteuern. Ich besorgte mir andere Noten und spielte „Am Dorfbrunnen“ oder den „Evchen-Walzer“. Das eine war so trivial wie das andere, aber wenigstens hörten hier die Männer nicht zu, sondern die Mütter und Tanten wurden für wenige Momente weich und gerührt. Und dann nahm mich eine Freundin mit in die Oper. Das war der Tag, an dem eine lebenslange Liebe begann, und kein noch so vernünftiges Argument gegen die Oper, diese unvernünftigste aller Künste, kann meinen Kopf erreichen. Die Oper erreicht nur mein Herz, und das Herz diskutiert nicht. Es war Die Zauberflöte. Natürlich habe ich damals den tieferen Sinn der Geschichte nicht verstanden. Ich glaube, ich habe auch die meisten Texte nicht verstanden, denn das muss man ja erst lernen — auf Worte zu hören, die gesungen werden und zu denen ein Orchester — sehr laut — spielt. Ich hatte noch nie eine Koloratur gehört, aber ich habe sofort gefühlt, was das ist: sinnlicher Überfluss, Verschwendung, Tanz mit Tönen. Und ich war schon bei der Ouvertüre wie verwandelt. Ich hörte hier zum ersten Mal Musik im Dunkeln, in diesem Saal, in diesem Augenblick für mich gespielt — was für ein unbeschreiblicher Luxus! Dann öffnete sich der Vorhang, ein Mann kam und sang: „Zu Hilfe, zu Hilfe, sonst bin ich verloren!“, das war genau der Schrei, der schon so lange in mir steckte, und so etwas kann man nicht einfach aussprechen, man muss es wohl singen. Zu Hilfe, zu Hilfe, sonst bin ich verloren! Die Oper kam mir zu Hilfe, darum war ich damals, in dieser Zeit mit diesen Eltern, in dieser Stadt, eben nicht mehr verloren. Und dann lief das Märchen ab, alles war unwirklich und war doch genau das, wonach ich mich immer gesehnt hatte: Poesie, Geheimnis, Rätsel, Liebe, Schönheit, Anmut, starke optische und akustische Eindrücke, Erschütterung.

Ich habe die ganze Zeit geweint, nicht weil es so traurig gewesen wäre, sondern weil ich so erschüttert war. Kurz nach diesem Opernbesuch habe ich mich zum ersten Mal verliebt, es war, als hätte sich mein Herz geöffnet. Nach diesem Opernbesuch begann das Verhältnis zu den Eltern zu bröckeln, schlechter zu werden, denn ich wollte nicht mehr, dass ihre Welt meine Welt war. Ich hatte etwas anderes gesehen und war für immer die verlorene Tochter der Königin der Nacht. In dieser Zeit las ich auch das Buch, das für immer mein Lieblingsbuch bleiben sollte: Das Herz ist ein einsamer Jäger von Carson McCullers. Darin gibt es ein Mädchen namens Mick, das genauso auf der Suche nach Ruhe und Schönheit, nach einem Platz außerhalb von Familie, Krach, Geschrei ist, wie auch ich es damals im zerstörten Essen war. Mick schleicht sich abends in die reicheren Stadtteile, setzt sich unter die offenen Fenster und lauscht der Musik, die aus den Radios kommt: „Einige Melodien waren irgendwie schnell und wie Glöckchen, und eine andere war so, wie es in einem Frühling nach dem Regen duftet. Aber alle diese Melodien machten sie gleichzeitig irgendwie traurig und erregt. Sie summte eine der Melodien, und ihr kamen die Tränen. Die Kehle wurde ihr eng und rauh, sie konnte nicht weitersingen. Rasch schrieb sie den Namen des Mannes ganz oben auf ihre Liste: „Motsart.“ Auch für mich war er der Initiator: Mozart. Ich hatte, im Gegensatz zu Mick, ein Programmheft, da stand sein Name richtig geschrieben, da wurde mir die Geschichte von Tamino und Pamina erklärt. Mick musste später im Leben alle Träume begraben, so wie alle Figuren in diesem traurigen Buch, das eine dreiundzwanzigjährige, bis dahin unbekannte Autorin geschrieben hatte, die damit Weltruhm erlangte. Ich hatte mehr Chancen als Mick, und eine meiner Chancen ist und war von Anfang an die Oper, die mir geholfen hat, weiterzuträumen und mich nicht nur mit Realität, mit dem, was schlüssig ist, mit Erklärungen abspeisen zu lassen. Diese erste „Zauberflöte“ hat mein ganzes Leben verändert.

Das ist mehr als fünfzig Jahre her, aber es wirkt noch immer. Seitdem habe ich, wann immer ich Geld, Zeit, Gelegenheit hatte, die Oper besucht, in jeder Stadt, wirklich wahllos, ich suche mir weder die Komponisten und ihre Jahrhunderte, weder die Dirigenten noch die Sänger noch die Stücke aus. Ich habe natürlich Lieblingsopern, in die ich immer und immer wieder gehe, und es gibt Komponisten, mit denen ich seit Jahren ringe, aber ich lasse niemals locker. Ich habe hinreißende und grauenhafte Inszenierungen gesehen, weltberühmte und gänzlich unbekannte Sänger, brillante und lahme Orchester gehört — der Zauber wirkt immer: Mein Herz öffnet sich, Schmerz, Liebe, Tod bekommen einen anderen Stellenwert, in der Oper ist alles möglich, weil alles unmöglich ist. Hier gelten andere Maßstäbe. Alle gelernten Regeln treten außer Kraft. Die Oper ist ein Missverständnis, an Fürstenhöfen aus der Nachahmung antiker Tragödien entstanden und dann bis in die Bürgersäle gewandert. Da sitzen wir nun, und in zwei, drei Stunden werden uns Geschichten von Nibelungen, Kleopatra, Don Giovanni, von Macbeth, Faust oder dem Meister und Margarita erzählt. Erzählt? Sie werden gesungen! Don Giovanni serviert uns in den ersten Minuten Vergewaltigung und Mord, und dazu wird gesungen! Oder nehmen wir Verdis La Traviata: der Text ist italienisch, es singen Kanadier, Koreaner, Deutsche in einer ihnen fremden Sprache, man versteht kein Wort. Die Sänger haben selten gelernt, sich auf einer Bühne so zu bewegen wie Schauspieler, und doch müssen sie spielen. Violetta ist ziemlich korpulent, und mit dieser Figur singt sie vom Tod an der Schwindsucht. Wer soll das alles glauben? Die Oper ist keine Sache von Glauben. An diesem Kunstwerk endet alle Logik. Die Oper ist ein Widerspruch in sich, das kann gar nicht funktionieren, was da allabendlich passiert — und doch, wie wunderbar, es ist wie mit der Hummel, die aerodynamisch gesehen ja auch nicht fliegen kann, aber weil sie es nicht weiß, fliegt sie trotzdem.

Alles Nachdenken über die Oper, alles feinsinnige Analysieren kommt schließlich auf dasselbe hinaus: Auf die Oper muss man sich einlassen, die Oper darf man nicht an der Wirklichkeit messen. Sie ist Einbildung, Illusion, ganz und gar: eine zusammenhängende Musik, die keine wirklich zusammenhängende Musik ist, sondern zerfällt in Ouvertüren, Arien, Zwischenspiele, Rezitative; eine Handlung, in der Hochdramatisches auf den kürzesten Zeitraum zusammengedrängt wird; eine Sprache, die noch im gelungensten Fall immer hinter der Musik zurückbleibt und oft lächerlich ist, denn die Wörter müssen sich nach der Musik richten, und die Musik gewinnt immer — darum hat die italienische Oper, die von der Musik ausgeht, die französische besiegt, die vom Text her konzipiert wurde. Die Dekoration ist falsch, der Ballsaal ist bemalte Pappe, der Sekt in den Gläsern ist so unecht wie Violettas Kamelie, ihr Tod ist vorgetäuscht. Menschen, die sich doch sagen könnten, dass sie sich lieben, singen sich an — lächerlich. Dass es eben nicht lächerlich ist, das macht die Musik. Orpheus hat eine Tote ins Leben zurückgeholt — mit seiner Musik. Fast, denn er hat ja seiner eigenen Kunst nicht getraut und sich nach Eurydike umgesehen und sie deshalb wieder verloren. Da ist er wieder, der Baum der Erkenntnis: Wir wollen alles wissen und erklären, ja, und dann ist das Paradies dahin, die alte Geschichte. An der Oper will ich einfach nicht zu viel herumerklären. Ich will sie in mich aufnehmen, ich will mich ihr ausliefern, ich will, dass sie sich für mich verschwendet.

Natürlich hatte Johann Christoph Gottsched recht: Die Oper ist das ungereimteste Werk, das der Verstand sich je ausgedacht hat. Aber Gottsched wollte eine Kunst, die mit vernünftigen Prinzipien danach trachtet, den Menschen moralisch zu bessern. Die Oper bessert nicht, sie befreit. Und Befreiung ist immer Aufruhr, ist immer auch revolutionär. Für mich ist die Oper nicht die verstaubteste Kunstform, wie uns so viele Opernverächter einreden wollen, sondern die modernste. Hier wird das Aberwitzige auf die Spitze getrieben und die Leidenschaft wird angefacht. Die wilde Ungereimtheit der Oper ist kühn und verführt zur Kühnheit. Endlich lässt sich einmal nicht alles erklären und zergliedern, endlich sehe ich wieder mit ganzer Wucht, was das ist: ein Mensch und seine ihn herumwirbelnden Gefühle. Oper ist Aufruhr. Keine Kunst erreicht uns so unmittelbar und direkt wie die Musik, und dass die meisten Opernfiguren anachronistische Gespenster sind — na und? Geht es im Leben immer nach begreifbaren psychologischen Regeln zu? Leben und Liebe, diese ewigen Baustellen, spiegelt die Oper im Brennglas wider. Die Oper ist der Traum, den wir vom Leben träumen, hier lassen wir Illusionen zu, sinnliche Nähe, die Verschwendung von Gefühlen. Hier endlich. Es ist schön, weil es unmöglich ist. Und auf das Unmögliche muss man sich einlassen. Wer dazu nicht bereit ist, wird die Oper nicht begreifen, denn zu begreifen ist sie nicht. Ihren Mythos muss man bis in die Knochen fühlen, noch in der jämmerlichsten Inszenierung, denn nur in den seltensten Fällen bilden Sichtbarkeit und Hörbarkeit der Oper eine harmonische Einheit. Dann ist das Glücksgefühl des Zuhörenden, des Zuschauenden unbeschreiblich.

Ich messe die Oper nicht mit dem Verstand, ich kann das nicht. Ich kann Einzelheiten kritisieren, ich leide, wenn wieder mal einer nicht begreift, welche emotionale Sprengkraft im Fidelio steckt, und bloß ein langweiliges Kerkerdrama herunterinszeniert, aber ich bin sofort bereit, Don Giovanni als mordenden Wüstling in die Bronx zu versetzen. Wie auch immer eine Oper inszeniert wird: Ich lasse mich auf das Angebot ein, finde es am Ende akzeptabel oder nicht, aber immer, immer kapituliere ich letztlich vor der Intensität, vor der Kraft, vor der Irrationalität der Töne, die ich mit meinem Kopf einfach nicht fassen kann. Sie überwältigen mich, und von dieser Gewalt bleibt nach jedem Opernbesuch etwas als Kraft in mir zurück.

Die Oper ist ein Experiment, das schon vier Jahrhunderte andauert. Sie wurde oft totgesagt, sie hat sich immer wieder gewandelt und verändert. Ihr Geheimnis ist nicht zu entschlüsseln. Und ihr Geheimnis hat auch mit dem Besuch des Opernhauses zu tun. Ich kann mir zu Hause bequem eine akustisch bessere CD auflegen, ich muss mich dazu nicht umziehen, keinen Parkplatz suchen, nicht neben hustenden Nachbarn sitzen. (Bitte: Alle Opernhäuser sollten endlich an allen Eingängen große Körbe mit knisterfreien Hustenbonbons aufstellen, wie es die Kölner Philharmonie erfolgreich macht.) Ich kann großartige Operninszenierungen im Fernsehen sehen und hören — es wird nie dasselbe sein wie der Moment im dunklen Raum, in dem der erste Ton erklingt, in dem mir die Ouvertüre die Geschichte erzählt, die Melodien andeutet, die ich gleich als Arien wiederhören werde. Warum wirkt das so intensiv? Weil wir es brauchen. Weil es keinen anderen Ort mehr gibt, der uns so körperlos und schwerelos sein lässt, der uns für einen Moment die eigene Geschichte derart gründlich abnimmt und eine andere erzählt.

Reich mir die Hand, mein Leben. Ja, immer. Die Oper, dieses beau monstre, dieses schöne Monster ist das legendäre Einhorn. Wir haben es nie gesehen, aber wir wissen, es ist da als Symbol unserer Sehnsucht. In der Oper ist nichts wahr, aber alles ist wahrhaftig, und weil die Oper im Grunde unmöglich ist, darum ist sie so unverzichtbar schön.

© Carl Hanser Verlag ©

Literaturangabe:

 

HEIDENREICH, ELKE: Passione. Liebeserklärung an die Musik. Carl Hanser Verlag, München 2009. 160 S., 15.90 €.

Weblink:

Carl Hanser Verlag


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