Von Thomas Borchert
„Liebe ist ein anarchisches Wesen. Wie ein freier Vogel, man kann sie nicht halten.“ Und wenn die Liebe trotz schönsten Werbens ausgeblieben ist: „Sie fühlte sich nicht in der Lage, wie sie später sagte, aus Dankbarkeit erotische Empfindungen zu schmieden.“ Typische Sätze von Alexander Kluge, nachzulesen und zu hören im neuesten Werk des mit 77 Jahren weiter unglaublich produktiven Schriftstellers und Filmemachers. 166 eigene Geschichten über die Liebe, das „Labyrinth der zärtlichen Kraft“, hat er hier gesammelt und eine DVD mit 21 gefilmten Gesprächen und Szenen beigefügt.
Immer mit dem etwas oder auch ganz anderen Blick, immer angetrieben von seinem unfassbar schnellen Assoziationsvermögen und in einer alle Himmelsrichtungen sprudelnden Fantasie. Mit dem Philosophen Niklas Luhmann (1927-1998) hat sich Kluge auf fesselnde Weise über die Frage unterhalten, wie es um die Liebe bei einem Paar bestellt sein könnte, wenn beim Heimkehren erst die eigene Post durchgeschaut und dann der Begrüßungskuss in der Küche gegeben wird. Oder umgekehrt, um dem anderen zu zeigen, dass er oder sie geliebt wird.
Das ist nicht unkompliziert, weil zu den komplexen Handlungsstrategien von Liebenden auch „Beobachtungen 2. Ordnung“ gehören: Der oder die zuerst Geküsste weiß, dass der Partner vor allem so handelt, weil er seine Liebe zeigen möchte. „Beobachtung des Beobachters“ nennt Luhmann das. Kluge antwortet wie aus der Pistole geschossen mit einem Morgenstern-Gedicht: „Ein Hase saß auf einer Wiese, des Glaubens, niemand sähe diese.“ Er wird aber beobachtet.
Man liest über die ersten sieben Sekunden einer Begegnung, in denen eine Frau ohne Wort, „aus den Augen heraus“ regelt, wie es weitergeht, über Liebe unter den Bedingungen des Krieges und als scheiternden Menschenversuch im Konzentrationslager, Liebe als Arbeit („Warencharakter der Beziehungsarbeit“), und über das für Kluges Geschmack offenbar zu traurige Ende der großen Liebenden Anna Karenina. Also denkt er sich ein neues aus.
Man bewegt sich in der Geschichtensammlung wie in einem wild wachsenden, schönen, aber auch chaotischen und mitunter schwer durchdringlichen Garten. Ordnung ist Kluges Sache nicht, passt aber nicht zu Liebe als dem „vielleicht größten Schatz, den die Evolution hervorgebracht hat“: „Wer sie nicht hat, kann nicht überleben.“ Buch und DVD sind Appetitwecker, den eigenen Blick auf das große Thema mit vorbehaltloser Neugier aus möglichst vielen Perspektiven zu richten.
Literaturangabe:
KLUGE, ALEXANDER: Das Labyrinth der zärtlichen Kraft. 166 Liebesgeschichten. Suhrkamp Verlag, Frankfurt 2009. 605 S. und DVD, 26,80 €.
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