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Literarische Geheimtipps aus Argentinien

Samanta Schweblin, Lucía Puenzo, Guillermo Orsi

© Die Berliner Literaturkritik, 26.09.10

Von ANGELO ALGIERI

Argentinien - das zweitgrößte südamerikanische Land - ist diesjähriger Ehrengast der Frankfurter Buchmesse. Während hierzulande vor allem der argentinische Autor Jorge Luis Borges (1899-1986) mit seinen phantastischen Erzählungen „Das Aleph“ und „Die Bibliothek von Babel“ bekannt ist, fällt einem zu den Gegenwartsautoren kaum ein Name ein - zu Unrecht! Denn die zeitgenössischen Autoren beschäftigen sich mit der vielseitigen jüngeren Vergangenheit Argentiniens, allem voran mit der Militärdiktatur (1976-1983) unter Jorge Rafael Videla und den mindestens 20.000 Desaparecidos - den spurlos Verschwundenen, die von der Junta verschleppt wurden. Aber auch der Falklandkrieg 1982 und die Wirtschaftskrise im Dezember 2001 spielen in der aktuellen Literatur eine Rolle.

Die Wirtschaftskrise bildet die Rahmenhandlung des Kriminalromans „Im Morgengrauen“ von Guillermo Orsi, der bei dtv auf Deutsch erschienen ist. Protagonist Pablo Martelli ist ehemaliger Polizist der Policia Federal Argentina, die während der Diktatur Oppositionelle aus dem Weg geräumt hat. Schon während der Diktatur steigt Martelli aus und arbeitet stattdessen als Vertreter für Sanitärprodukte - bis ihn am 14. Dezember 2001 mitten in der Nacht ein Freund anruft und ihn bittet, in eine Küstenstadt zu kommen. Doch als er ankommt, ist sein Freund längst tot. Und weitere Leichen folgen. Martelli, der von einem Gerichtsmediziner und zwei korrupten Lokalpolizisten unterstützt wird, stößt bald auf Machenschaften zwischen Politik, Wirtschaft und Kriminellen.

Dieser mit Spannung geschriebene Krimi zeichnet sich dadurch aus, dass Orsi sehr treffend die chaotische Stimmung Ende 2001 wiedergibt: Es kommt zu Demonstrationen, die Regierung friert alle Bankkonten ein, Supermärkte werden geplündert. Bei Auseinandersetzungen mit der Polizei sterben 33 Menschen, viele weitere werden verletzt. Am 21. Dezember, an diesem Tag endet der Roman, tritt Staatspräsident Fernando de la Rúa zurück.

Dem 64-jährigen Journalisten und Autor Orsi gelingt es, durch die Ermittlungen Martellis die historischen und sozialen Verstrickungen und Ursachen der Wirtschaftskrise zu ergründen - somit sind die Ermittlungen Martellis von doppelter Bedeutung. Der Krimi wirkt dennoch nicht zu moralisch oder themenüberfrachtet, denn Argentinien befand sich 2001 in einer außerordentlichen Situation.

Auch der im Wagenbach Verlag veröffentlichte Roman „Der Fluch der Jacinta Pichimahuida“ von Lucía Puenzo greift auf die jüngere Vergangenheit zurück. Jacinta Pichimahuida ist die Lehrerin in der in Argentinien berühmten Kinderserie „Fräulein Lehrerin“, die seit 1974 existiert. 1983 startete die zweite Staffel, die im Mittelpunkt des Romans steht. Einige der Darsteller sind im Erwachsenenalter auf mysteriöse Weise umgekommen. Ähnlich dem „Fluch“, der über den Mitwirkenden des Horrorfilms „Poltergeist“ lag. Puenzo fügt zu dieser realen Geschichte mit dem Statisten Pepito eine fiktionale Figur hinzu. Als der 9-jährige Pepito sich am Set weigert, eine Szene zu spielen, wird er zum autoritären Drehbuchautor Santa Cruz zitiert. Statt ihn aus der Serie zu nehmen, bietet Santa Cruz ihm an, das Drehbuch zu seinem Leben zu schreiben - Pepito willigt ein und lernt nun täglich seinen Part kennen. Alles klappt, bis die Mutter Pepitos bemerkt, dass er nach einem Skript lebt - es kommt zum Eklat: Santa Cruz schreibt weder für die Serie weiter noch für Pepito. 20 Jahre später glaubt der nun erwachsene Pepito jedoch, Santa Cruz gesehen zu haben und reißt ihm einige Seiten eines Skripts aus der Hand. Wie versessen glaubt er, dass alles, was er erlebt, von Santa Cruz so „erschrieben“ wurde: Die mysteriösen Todesfälle der ehemaligen Darsteller, die Zusammenkunft der noch Verbliebenen und eine Liebesgeschichte mit Twiggy.

Puenzo, Jahrgang 1976, beschreibt sehr treffend ihre Generation, die in Lethargie verfallen ist und sich nach einer Anleitung des Lebens sehnt. Puenzo versteht es meisterhaft, Denis Diderots „Jacques der Fatalist und sein Herr“ als eine ganz neue Geschichte in unsere Zeit zu übersetzen. Im Mittelpunkt steht die Frage nach dem freien Willen und der Vorherbestimmtheit des Lebens. Wer ihr Debüt „Das Fischkind“ geliebt hat, wird diesen Roman verehren.

Dagegen enthält der Erzählband „Die Wahrheit über die Zukunft“ von Samanta Schweblin 14 anachronistische Erzählungen. Der im Suhrkamp Verlag erschienene Band versammelt absurde, pointierte und zugleich verstörende 3- bis 15-seitige Erzählungen: Beispielsweise „Auf der Steppe“, in der ein Pärchen bei einem anderen eingeladen wird, weil sie etwas haben, nach dem diese allnächtlich in der Steppe Ausschau halten. Es bleibt offen, was dieses Etwas ist, doch als der Mann unerlaubterweise das Zimmer betritt, in dem sich dieses Etwas befindet, erschrickt er, wird verletzt, nimmt seine Frau mit sich und flieht. Gruselige und Angst einflößende Geschichten - Schweblins Erzählungen sind im Stile E.T.A. Hoffmanns gestrickt. Es gibt aber auch bitter-heitere unter ihnen, wie etwa „Der Weihnachtsmann schläft bei uns“. Hier schreibt die Autorin aus der Sicht eines kleinen Jungen: Am Heiligen Abend entpuppt sich der Weihnachtsmann als Liebhaber der Mutter und das Chaos ist perfekt. Der Vater schlägt dem Weihnachtsmann ins Gesicht, die Mutter verschließt sich mit ihm im Schlafzimmer und der Junge geht ohne Geschenke ins Bett. Herrlich komisch und abgründig zugleich.

Die 32-jährige Schweblin, die für diesen Erzählband 2008 den angesehenen Premio Casa de las Américas erhielt, hat Ungesagtes, nicht Greifbares, nicht logisch Erklärbares in konzentrierte und geheimnisvolle Geschichten komprimiert. Sie besitzt das Talent, das Absurde in unserer Welt aufzuzeigen und auf skurrile Form zu präsentieren - wie einst Boris Vian.

Diese vielfältige und vielschichtige Literatur aus Argentinien macht Lust auf mehr. Und es dürfte sich lohnen, sich einige dieser Namen zu merken. Ob vielleicht sogar einer dieser Autoren Borges mit dem Literaturnobelpreis übertrifft?

GUILLERMO ORSI: Im Morgengrauen. Kriminalroman. Übersetzt von Matthias Strobel. dtv, München 2010. 368 S., 8,95 €.
LUCIA PUENZO: Der Fluch der Jacinta Pichimahuida. Roman. Wagenbach Verlag, Berlin 2010. 288 S., 12,90 €.
SAMANTA SCHWEBLIN: Die Wahrheit über die Zukunft. Erzählungen. Übersetzt von Angelica Ammar. Suhrkamp Verlag, Berlin 2010. 130 S., 19,80 €.


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