Von Frauke Kaberka
Helene erwacht aus dem künstlichen Koma. Sie hört Geräusche, versucht sie einzuordnen. Es ist mühsam, vielleicht auch unmöglich. Wo ist sie? Warum spricht sie auf einmal Englisch? Spricht sie überhaupt? Und mit wem? Scheinbar ungeordnet jagen ihr Gedankenfetzen durchs Hirn. Die Autorin Kathrin Schmidt unternimmt in ihrem neuen Roman „Du stirbst nicht“ den Versuch einer Reflexion - nach einer beinahe tödlichen Attacke in Helenes Kopf. Ein geplatztes Aneurysma hat die bisherige Ordnung durcheinandergebracht und teilweise ausgelöscht. Was geblieben ist, sind riesengroße Ängste, Chaos und viel, viel Leere. Und natürlich schwere motorische Schäden, die zu beheben vielleicht ganz unmöglich ist.
Nein, beim Versuch der Reflexion ist es nicht geblieben. Das Ergebnis ist überzeugend - und verstörend. Vor allem wohl deshalb, weil Schmidt hier viel Berufserfahrung aus einem früheren Leben einbringt. Sie hat Psychologie studiert und auch als Sozialwissenschaftlerin gearbeitet. Wie sie Helenes Wiedergeburt darstellt, den unendlich quälenden und zähen Weg der Rehabilitation aus Sicht der Patientin miterleben lässt, ist einfach umwerfend. Gleichzeitig mit dem Leser und in winzigen Mosaiksteinchen setzt Helene ihr bisheriges Leben zusammen. Es bleiben Lücken, tun sich Seiten an ihr auf, die Helene nicht zu kennen glaubt. Möglicherweise sind es auch ganz neue, bisher verborgen gebliebene.
Helenes Lebenspuzzle hat viele Motive. Da ist ihre Patchworkfamilie. Zu den Kindern findet die Patientin zuerst Zugang. Da ist ihr Mann, der sich aufopferungsvoll um seine Frau kümmert. Doch wo ist die Liebe zu ihm? Da ist Viola, Helenes Freundin. Was spielt sie für eine Rolle? Ja, wer ist Viola überhaupt? Die unzähligen Fragen zu beantworten, ihre (gedankliche wie auch artikulierte) Sprache wiederzufinden, ist Helenes eigene geistige Rehabilitation, ihren Bewegungsapparat wieder in Gang zu bekommen, die der Ärzte und Therapeuten. Sie macht Fortschritte - und Schritte zurück, bewegt sich ständig zwischen Lachen und Weinen.
Es sind die Alltäglichkeiten, die sich als erste Erinnerungen Raum schaffen. Doch die plötzliche Erkenntnis, dass sie ihren Mann verlassen wollte, trifft Helene wie ein Schlag. Warum? Was zählt noch? Wie war ihr Leben wirklich unmittelbar vor dem Zusammenbruch? Und wie soll es weitergehen? Schmidt schafft das fast Unmögliche: die Orientierungslosigkeit einer Hirnpatientin und ihre Suche nach dem eigenen Ich so zu schildern, dass man als Leser in deren Körper und Geist steckt.
Es scheint fast so, als habe die Autorin mit ihrem Buch der besonderen Form des Entwicklungsromans den eigentlichen Inhalt gegeben. Hier entwickelt sich ein Mensch nach einem einschneidenden Erlebnis völlig neu: Während Helene sich und ihr kaputtes Hirn nach Erinnerungen martert, ihr Vorleben sich allmählich herauskristallisiert, entsteht genauso langsam eine neue Helene. Noch unfertig und ganz gewiss auch unvollkommen, aber aus alten Bausteinen mit neuer Identität.
Literaturangabe:
SCHMIDT, KATHRIN: Du stirbst nicht. Kiepenheuer & Witsch Verlag, Köln 2009. 350 S., 19,95 €.
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