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Literarischer Krimi

Ein neuer Fall für Raffael Horn und Kommissar Ludwig Kovacs

© Die Berliner Literaturkritik, 26.09.10

WIEN (BLK) – Der Roman „Das Matratzenhaus“ von Paulus Hochgatterer ist Anfang Februar 2010 im Zsolnay Verlag erschienen.

Klappentext: Frühlingsidylle in Furth am See, einer Kleinstadt in Österreich. Doch damit ist es mit einem Schlag vorbei, als eine rätselhafte Serie von Kindesmisshandlungen die Bewohner der Stadt in Unruhe versetzt. Der Psychiater Raffael Horn und Kommissar Ludwig Kovacs versuchen fieberhaft, den Täter zu finden, bevor die Sache noch weiter eskaliert. Das ungewöhnliche Ermittlerduo aus Hochgatterers Bestseller „Die Süße des Lebens“ geht in diesem literarischen Krimi ein weiteres Mal auf gemeinsame Spurensuche.

Paulus Hochgatterer wurde 1961 in Amstetten (Niederösterreich) geboren und studierte Medizin und Psychologie an der Universität Wien, wo er 1985 zum Doktor der Medizin promovierte. Heute lebt er als Schriftsteller und Kinderpsychiater in Wien. Er erhielt zahlreiche Literaturstipendien und Auszeichnungen, darunter das Nachwuchsstipendium für Literatur des Bundesministeriums für Unterricht und Kunst und zuletzt den Europäischen Literaturpreis 2009. (kör)

 

Leseprobe:

© Paul Zsolnay Verlag ©

Sie steht in der Tür, blickt in die Klasse und weiß, dass es wieder einmal schwierig werden wird. Alle paar Wochen ist das so.

Langsam stellt sie ihre Tasche ab. Es liegt nicht an mir, denkt sie, vor zwei Minuten hat es geläutet, die Kinder sind in Aufruhr und mittendrin sitzt ein kranker Mensch auf dem Tisch und spricht vom Himmel. Es liegt definitiv nicht an mir.

Sie bemüht sich, ruhig zu bleiben, und lässt ihre Augen über die Wand gleiten, links herum: die Tafel; der Schrank mit dem Bastelmaterial; die blühenden Bäume, einundzwanzig Stück, von jedem Kind einer, manche gezeichnet, manche aus Zeitschriften geschnitten; die große Österreichkarte mit dem roten Hasen, den Lena unten rechts draufgemalt hat; Philipps Fußabdrücke an der Wand, der linke in einer Höhe von eins zwanzig; die Rolltafel mit der Schulschrift – die muss sein, hat die Direktorin gesagt; die Fenster, in ihnen die Dächer der Stadt und im rechten, ganz am Rand, ein winziges Stück vom See.

Bauer sieht sie, lacht, winkt ihr zu und denkt nicht daran, aufzuhören. Es scheint ihm gut zu gehen – immerhin. Jetzt singt er, völlig unvermittelt und laut. Sie versucht zu erkennen, was es ist. On the water versteht sie, sonst nichts. Julia und Sophie singen mit, ebenfalls laut.

Sie klatscht in die Hände. „Schluss, meine Lieben“, ruft sie, „jetzt bin ich dran!“ „Hallo, Stella!“, sagt Bauer, „nimmst du an meinem Unterricht teil?“ „Ich bin evangelisch“, antwortet sie, obwohl es nicht stimmt. „Du lügst!“, ruft Bauer.

„Darf ich jetzt wieder?“, fragt sie, „bitte.“

„Nur wenn du mir sagst, wie Gott aussieht.“

„Ein alter Mann mit weißem Bart.“

„Richtig. Und was trägt er bei sich?“

„Ein Buch und einen Blitz.“

„Falsch! Eine Gitarre natürlich!“

Sie sieht einen zornigen alten Mann vor sich, der eine Gitarre gegen eine Schultafel schmettert, und wundert sich über sich selbst, da zupft sie Manuel am Ärmel. Er hält ihr ein Zeichenblatt hin. „Wir haben Gott gezeichnet“, sagt er stolz. Angesichts der Graphomotorikschwäche des Buben ist vor allem die Gitarre gut gelöst – ein Kringel mit parallelen Strichen seitlich weg: eins bis sechs. Im Rechnen läuft es bei ihm tadellos.

Bauer springt vom Tisch, tanzt in Wechselschritten auf sie zu und küsst sie auf die Wange. Die Kinder lachen. „Meine Lieblingslehrerin!“, ruft er. „Ist schon gut“, sagt sie, „packst du jetzt bitte deine Sachen?!“

„Besitzt Gott deines Erachtens einen Gehstock?“ Er umkreist sie und fragt, ob Gott Unterhemden trage oder eine Lesebrille, ob er vegetarisch esse, Pfeife rauche und eher ein Auto- oder ein Motorradtyp sei. „Motorrad“, sagt sie, „und er hat Probleme mit seiner Lendenwirbelsäule.“ Er hält inne, und bevor er einhaken kann, sagt sie, dass bei Gottes letzter Gesundenuntersuchung der Prostatabefund nicht ganz in Ordnung gewesen sei, und außerdem sei sein Psychiater total unzufrieden mit der Zuverlässigkeit seiner Medikamenteneinnahme.

„Du bist eine fiese, feministische Volksschullehrerin“, sagt Bauer und sie fürchtet, dass Manuel, der mit offenem Mund neben ihr steht, im nächsten Augenblick wissen möchte, was denn das sei, feministisch und Prostatabefund.

Während Bauer seine Schuhe sucht, dirigiert sie die Kinder an ihre Plätze. Einer fehlt. „Was ist mit Felix?“, fragt sie. Bauer blickt sich verwirrt um. „Er ist nach Hause gegangen“, sagt Julia.

„War ihm nicht gut?“

„Doch, er hat ganz gesund ausgesehen.“

Sie sucht den Blick Bauers. „Erklärst du mir das bitte. Felix ist was?! Nach Hause gegangen?!“

„Was hast du?“, sagt Bauer, „er wohnt zwei Straßen weiter.“

Meine Klasse, denkt sie, es ist meine Klasse, und mit einem Anflug von Verwunderung registriert sie ihren Besitzanspruch, außerdem, dass die grenzenlose Nachsicht mit ihren Mitmenschen, die die sichere Basis ihres Charakters ist und sie ohne Zweifel für ihren Beruf prädisponiert wie kaum jemand anderen, innerhalb einer einzigen Sekunde völlig zusammenbricht.

„Sag das bitte noch einmal! Du hast ihn nach Hause gehen lassen?! Allein?“

„Er tut das öfter. Bis jetzt ist er jedes Mal nach einer Viertelstunde wiedergekommen. Er ist abgemeldet.“

„Er ist abgemeldet?!“ Jetzt brüllt sie tatsächlich. Das entspreche ganz dem Bild, das sie von dieser professionellen Katholiken-Fraktion habe – verlogen, träge und, wenn es drauf ankomme, verantwortungslos bis in die Knochen. „Ein sechsjähriges Kind wird vom Religionsunterricht abgemeldet und der Herr Pater findet nichts dabei, es allein auf die Straße zu schicken. Zwischendurch, einfach so!“ Bauer macht einen spitzen Mund, zieht den Kopf ein und nimmt seine Jacke vom Haken. Die Kinder ducken sich ebenfalls. Etwas geht mit mir durch, denkt sie, das passiert selten. Der dicke rothaarige Leonhard tritt auf sie zu. „Ich gehe hinüber und schaue, ob er vielleicht eingeschlafen ist“, sagt er. Sie fasst seine Hand und antwortet nicht. „Wie lange ist er schon weg?“, fragt sie. Bauer blickt auf die Uhr. „Vierzig Minuten“, sagt er.

„Und dir ist das nicht aufgefallen?“

„Nein“, sagt er, „wenn ich in einer gewissen Verfassung bin, fällt mir so manches nicht auf. Das weißt du.“

Ja, das weiß ich, denkt sie. Sie geht nach links hinten zu Felix’ Platz. Als sie sich bückt, um in das Fach seines Tisches zu schauen, merkt sie, dass sie Leonhard immer noch an der Hand hält. „Er hat alles dagelassen“, sagt sie. „Seine Trinkflasche hat er mitgenommen“, sagt Leonhard, „er hat eine neue silberne Trinkflasche mit einem schwarzen Drachen drauf.“ Sie zieht ein großes Heft mit rotem Schutzumschlag aus dem Fach. Englisch. A hat. A cat. A bat. Eine Fledermaus zu zeichnen, sei schwierig, hat sie den Kindern gesagt, schwieriger als eine Katze. Sie fährt mit der Kuppe ihres Zeigefingers die Worte nach, auch die Zeichnungen. Was für ein schrecklicher Hut, denkt sie – wie ein Maulwurfshügel. Trotzdem beruhigt es sie, in dieses Heft zu schauen. „Er kann nicht zeichnen“, sagt Leonhard, „Kindergartenkinder können es besser.“

Bauer steht vor der Tafel, schlaksig, bleich, unruhig in den Beinen. LDR, denkt sie, long distance runner – so nennen ihn manche. Die Kollegen behaupten, er laufe jede freie Minute: rund um den See, die Ache entlang, hinauf in die Berge, manchmal mehrere Stunden am Stück. Dabei höre er Musik. Jetzt summt er. „Du hast Nerven“, sagt sie. Er schüttelt langsam den Kopf. „Ich weiß“, sagt sie, „entschuldige. „ Sie legt das Heft zurück. Das Fach rechts daneben ist leer. Es hat einem Mädchen gehört, das ein paar Wochen nach Schulbeginn wieder ausgetreten ist. In der ersten Klasse kommt das vor. Susi – eine stille Dünne mit wirrem schwarzem Haar und altmodischem Namen. Felix mochte sie. „Was tun wir jetzt?“, fragt Bauer. Hinter ihm steht ein Satz an der Tafel: Der Hase hat lange Ohren. Sie hat ihn vor gut einer Stunde hingeschrieben. „Du bleibst jedenfalls da und schaust auf die Klasse. Ich gehe rüber und hole Felix. Leonhard wird mich begleiten.“

Sie laufen den Gang entlang, durchqueren die Pausenhalle und steigen die Stufen zum Haupttor hinab. Sie muss Acht geben, um nicht zu stolpern. Ich habe Angst, denkt sie. Draußen scheint die Sonne. Das ist durch die bogenförmige Oberlichte gut zu sehen. Sie weiß, dass sie draußen auf der Straße für einen Moment geblendet sein wird, und sie spürt schon diesen leichten Geruch nach Flieder. Vielleicht werden sie Friederike begegnen, die am Dienstag immer zwei Stunden später beginnt, vielleicht auch dem handzahmen Perlhuhn des Schrotthändlers, der schräg gegenüber sein Büro hat.

In dem Augenblick, als sie den Arm in Richtung Schnalle hebt, wird sie nach außen weggezogen. Im weißen Rechteck der Türöffnung steht eine kleine dunkle Figur. Leonhard ist der Erste, der etwas sagt. „Wo warst du so lange?“

© Paul Zsolnay Verlag ©

Literaturangabe:

HOCHGATTERER, PAULUS: Das Matratzenhaus. Deuticke im Zsolnay Verlag, Wien 2010. 296 S., 19.90 €.

 

Weblink:

Deuticke


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