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Literaturnobelpreis an Le Clézio – „Abenteuer und sinnliche Ekstase“

Le Clézio äußerte sich „gerührt und dankbar“

© Die Berliner Literaturkritik, 09.10.08

 

STOCKHOLM/PARIS/FRANKFURT (BLK) – Der Literaturnobelpreis 2008 geht überraschend an den französischen Romanautor Jean-Marie Gustave Le Clézio. Die Schwedische Akademie hat damit zum ersten Mal seit 23 Jahren wieder einen in Frankreich geborenen Schriftsteller gewürdigt. Die Jury begründete die Auszeichnung für den außerhalb der Literaturszene wenig bekannten Autor am Donnerstag (9. Oktober 2008) damit, dass Le Clézio ein „Verfasser des Aufbruchs, des poetischen Abenteuers und der sinnlichen Ekstase“ sei.

Der 68-jährige Autor reagierte „gerührt und dankbar“ auf den mit zehn Millionen Kronen (eine Million Euro) dotierten Nobelpreis. „Das ist eine mutige Entscheidung der Jury“, sagte Le Clézio am Nachmittag in Paris auf einer Pressekonferenz mit mehr als 100 Journalisten im Verlagshaus Gallimard. „Ich weiß nicht, ob ich den Nobelpreis überhaupt verdient habe“, fügte er bescheiden hinzu und sprach auch von „Glück“ angesichts sehr guter anderer Autoren. Mit dem Preisgeld will er seine Schulden bezahlen, kündigte Le Clézio an.

Der Schriftsteller, der zurzeit in den USA lebt, sprach von einer Ehre nicht nur für Frankreich, sondern auch für Mauritius. Denn er habe beide Staatsbürgerschaften, sowohl die französische als auch die mauritische. Seine Vorfahren waren im 18. Jahrhundert aus der Bretagne ausgewandert und fanden eine neue Heimat auf der afrikanischen Insel Mauritius im Indischen Ozean, östlich von Madagaskar gelegen. Le Clézio lebte selber lange auf Mauritius.

In seinen zumeist autobiografisch geprägten Romanen wie „Der Afrikaner“, „Wüste“ oder „Revolutionen“ versetzt Le Clézio seine Leser oft in fremde, ferne Welten. Seine Kritik an Zivilisation, Korruption und Umweltzerstörung geht mit der Suche nach dem Ursprünglichen einher. Der 1940 in Nizza geborene Autor sei „der Erforscher einer Menschlichkeit außerhalb und unterhalb der herrschenden Zivilisation“, hieß es in der Preisbegründung der Akademie.

Jury-Sprecher Horace Engdahl meinte: „Le Clézio ist ein Kosmopolit, ein Nomade. Er gehört mehreren Kulturen an und hat große Teile seines Lebens ganz woanders gelebt als in Europa.“ Davon sei auch seine Autorenschaft deutlich geprägt. Insofern sei der Franzose kein „typisch europäischer Autor“. Andererseits sei sein Bestreben, fremde Kulturen zu verstehen und intensiv zu beschreiben, „typisch europäisch“.

In Deutschland ist Le Clézio wenig bekannt, auch wenn zahlreiche Werke übersetzt wurden. Selbst der Literaturkritiker Marcel Reich-Ranicki musste passen. Er habe sich nie ernsthaft mit diesem Autorbeschäftigt, sagte er nach der Preisvergabe der Deutschen Presse-Agentur dpa. Seine Kollegin Sigrid Löffler sprach von einer „einigermaßen bizarren Wahl“. Le Clézios Romanen bescheinigte sie „Monotonie und Langweiligkeit“. Das habe viele Leser und auch sie selbst immer abgeschreckt, sagte sie dem Sender MDR Info.

An einen gebürtigen Franzosen war der berühmteste Literaturpreis der Welt zuletzt 1985 gegangen, als Claude Simon ausgezeichnet wurde; im Jahr 2000 erhielt der in Frankreich lebende Exil-Chinese Gao Xingjian den Preis. Der französische Präsident Nicolas Sarkozy bezeichnete Le Clézio als „Weltbürger, Sohn aller Kontinente und Kulturen“. Als Weltreisender verkörpere er „in einer globalisierten Welt die Ausstrahlung Frankreichs, seiner Kultur und seiner Werte und macht der Frankophonie alle Ehre“, hieß es in einem am Donnerstag (9. Oktober 2008) in Paris verbreiteten Glückwunsch des Élysée-Palastes.

Le Clézio kündigte an, er wolle „auf jeden Fall“ zur feierlichen Verleihung am 10. Dezember in Schwedens Hauptstadt reisen. In den vergangenen Jahren hatten drei von vier Preisträgern die Teilnahme wegen Krankheit absagen müssen. Die weltweit bedeutendste Literaturauszeichnung der Welt ist mit umgerechnet einer Million Euro (zehn Millionen schwedische Kronen) dotiert.

Neben Romanen hat der Le Clézio auch Kinder- und Jugendbücher veröffentlicht. Auf Deutsch erschien zuletzt 2007 „Der Afrikaner“ (Hanser Verlag), in dessen Zentrum die Begegnung mit seinem Vater steht, einem britischen Arzt, der lange in Nigeria gearbeitet hat.

Das Verlagshaus Gallimard, wo sein jüngster Roman „Ritournelle de la faim“ (etwa: Singsang des Hungers) herausgekommen ist, war auf die Sensation nicht vorbereitet und meinte nur: „Wir haben mehrere große Autoren unter Vertrag. Das war eine tolle Überraschung.“

Aus Sicht des deutschen Buchhandels ist die Preisvergabe ein „Signal“, über den Neuerscheinungen die Schätze des Bestandes nicht zu vergessen. Der Buchhandel vergesse hervorragende Werke wie die Bücher Le Clézios zu schnell, sagte Gottfried Honnefelder, Vorsteher des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels. „Da muss erst ein Preis kommen, um in Erinnerung zu rufen, was wir alles an großartigen Texten haben.“

Engdahl hatte eine Woche vor der Zuerkennung des Preises Aufsehen mit einer pauschalen Schelte der US-Literatur erregt. Dabei sind amerikanische Autoren wie Don DeLillo, Thomas Pynchon oder Philip Roth seit Jahren Dauerfavoriten. Engdahl hob die europäische Literatur als nach wie vor „führend“ in der Welt heraus. Von den letzten zehn Nobelpreisträgern waren sieben Europäer, zuletzt war die Britin Doris Lessing erwählt worden. In diesem Jahr galt unter anderem auch die in Berlin lebende Rumäniendeutsche Herta Müller (55) als aussichtsreiche Kandidatin. Letzte deutschsprachige Preisträgerin war 2004 die Österreicherin Elfriede Jelinek (61).

Die Zuerkennung des Literaturnobelpreises an Jean-Marie Gustave Le Clézio ist auf große Überraschung gestoßen. Die meisten Stimmen äußerten sich positiv, es gab aber auch Kritik an der Entscheidung.

Einige Zitate:

„Le Clézio ist ein Weltbürger, Sohn aller Kontinente und Kulturen. Als Weltreisender verkörpert er in einer globalisierten Welt die Ausstrahlung Frankreichs, seiner Kultur und seiner Werte und macht der Frankophonie alle Ehre.“ (Der französische Präsident Nicolas Sarkozy)

„Wir haben mehrere große Autoren unter Vertrag. Das war eine tolle Überraschung.“ (Das französische Verlagshaus Gallimard)

„Ich habe den Roman ‚Der Goldsucher’ im Zug von Paris nach Köln verschlungen und bin in Köln wie besoffen ausgestiegen.“ (Le Clézio-Lektorin beim Verlag Kiepenheuer & Wisch, Bärbel Flad)

„Ich habe mich mit ihm nie ernsthaft beschäftigt.“ (Der Literaturkritiker Marcel Reich-Ranicki)

„Ich erwarte keine Kontroversen wegen dieses Preises. In Frankreich ist Le Clézio allgemein als der größte lebende Autor des Landes anerkannt.“ (Der Sekretär der Schwedischen Akademie, Horace Engdahl)

„Eine einigermaßen bizarre Wahl.“ (Die Literaturwissenschaftlerin Sigrid Löffler)

„Vielleicht ist das die beste Aufgabe des Nobelpreises, dass er in solchen Fällen dazu anregt, die vielen Bücher, die einmal erschienen sind, wieder aufzulegen.“ (Der Vorsteher des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels, Gottfried Honnefelder)

„Dass einer, für den die Sprache, der Stil, die Form eine große Rolle spielt, den Nobelpreis erhält, freut mich natürlich sehr.“ (Der österreichische Autor und diesjährige Georg-Büchner-Preisträger Josef Winkler)

(dpa/bah)

 


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