Von Claire Horst
Was war noch mal der Strukturalismus? StudienanfängerInnen, aber auch interessierte Laien stehen oft vor diesem Problem: Man hat einen Begriff schon hundertmal gehört, kann sich aber nichts Genaues darunter vorstellen. Wer ungern nachfragt, aber doch Bescheid wissen möchte, ist mit der Taschenbuchreihe „Zur Einführung“ des Junius Verlags gut beraten. Die Bände dienen zur Orientierung über einzelne Forschungsgebiete oder Theorien. Zugleich erheben die HerausgeberInnen den Anspruch, die „Handschrift“ des jeweiligen Autors erkennbar werden zu lassen. Es soll also nicht nur ein Überblick gegeben, sondern eine bestimmte Perspektive auf das Thema eröffnet werden.
Das ist Oliver Simons in seiner Einführung in die Literaturtheorien definitiv gelungen. Sein Ansatz ist ungewöhnlich: Er beschränkt sich nicht auf eine rein chronologische Darstellung der verschiedenen Methoden, sondern ordnet diese anhand des semiotischen Dreiecks neu an. Das semiotische Dreieck ist ein Versuch, Kommunikation bildlich darzustellen. Die drei Seiten des Dreiecks bezeichnen die drei Ebenen der Kommunikation: Bedeutung, Zeichen und Referenz. Oliver ordnet jeder dieser Seiten eine Traditionslinie zu – je nachdem, ob die AutorInnen den Schwerpunkt auf das Zeichen, die Bedeutung oder die Referenz legen. Dank dieser ungewöhnlichen Einordnungsmethode gelingt dem Autor ein neuer Blick auf die Geschichte der Literaturwissenschaften, und er stellt Querverbindungen zwischen einzelnen TheoretikerInnen auf, die nicht ohne weiteres auf der Hand liegen.
Simons erläutert seinen Ansatz im Rückgriff auf den so genannten „linguistic turn“ Anfang des 20. Jahrhunderts. Autoren wie Ferdinand de Saussure, Ludwig Wittgenstein und Gottlob Frege hatten ihre Aufmerksamkeit in Abgrenzung von der am literarischen Gehalt orientierten Hermeneutik ganz auf das Zeichen, auf die Sprache selbst gerichtet. Das eigentlich Bezeichnete, die Gegenstände und Begebenheiten, auf die sich die Zeichen beziehen, stand nicht im Mittelpunkt ihrer Betrachtung: „Der linguistic turn […] verschiebt die Aufmerksamkeit vom Subjekt und seinem Erkenntnisvermögen auf die Sprache und ihre Gesetzmäßigkeit.“ Diese Theorien bezeichnet er folgerichtig als „Theorien der Referenz“. Dazu zählt er die Strukturalisten und Poststrukturalisten.
Diese definieren den eigenen Ansatz in Abgrenzung von der Hermeneutik, die textimmanent liest. In diesen „Theorien der Bedeutung“ spielt das Zeichen, die Form, in der etwas ausgesagt wird, nur einen untergeordnete Rolle. Autoren wie Dilthey und später Heidegger, Gadamer oder Szondi lesen Texte auf ihren Gehalt hin – ohne die Sprache, in der sie geschrieben sind, genauer in Augenschein zu nehmen.
Beide Linien sieht Simons in Abhängigkeit voneinander – zwar verstehen sie sich als gegensätzlich, doch im semiotischen Dreieck bewegen sich beide auf der Linie zwischen Zeichen und Bezeichnetem.
Demgegenüber wird Literatur in anderen Theorien im Zusammenhang zum sozialen Kontext gelesen. Diese Ansätze bezeichnet Simons als „Theorien der Referenz“: „Literatur wird auch im sozialen Kontext gelesen, man fragt nach Rückkopplungen mit der materialen Realität, fragt nach dem Körper oder der Geschichte im Text. Gerade am Ende des zwanzigsten Jahrhunderts wird die Literatur als nur eine Form symbolischer Praktiken gesehen, die nun von einer umfassenderen Kulturwissenschaft untersucht werden. Die Anziehungskraft von Referenten nimmt wieder zu.“
Zu diesen neuen Ansätzen zählt er zunächst die Systemtheorie Niklas Luhmanns, der das Problem der Unablösbarkeit des Zeichens von der Referenz analysiert – auch die Strukturalisten hatten eingestehen müssen, dass mit den Zeichen immer eine davon bezeichnete „Welt“ impliziert wird, doch erst Luhmann nimmt dies genauer unter die Lupe.
So unterschiedliche Herangehensweisen wie Adornos und Horkheimers kritische Theorie, die Diskursanalyse Michel Foucaults und den New Historicism von Stephen Greenblatt kann Simons zusammenführen, weil sie alle auf unterschiedliche Weise an der Realität orientiert sind, in der Texte entstehen und auf die sie sich beziehen. Sie alle lehnen textimmanente Lesarten ab. So deutet er den New Historicism zwar als eine Spielart der Hermeneutik, da aber die Geschichte selbst als Text gelesen wird, greife dieser über die Verhaftung an literarischen Texten hinaus auf die Referenz aus. Simons‘ Darstellung von Judith Butlers Gendertheorie stellt sogar die Einteilung in Referent, Referenz und Bedeutung in Frage: denn bei Butler wird auch die vermeintliche Referenz, der Körper, zum Referenten. Ihr zufolge handelt es sich bei dem Körper nicht um ein reales Objekt, sondern um eine soziale und sprachliche Konstruktion. Hier wird laut Simons das Modell des semiotischen Dreiecks verlassen. Ebenso gilt für die Medientheorie Kittlers und Baudrillards, dass sie mit dem Modell nicht mehr zu erfassen sind – für digitale Medien greift die Unterscheidung von Zeichen, Bezeichnetem und Bedeutung nicht mehr.
Die originelle Herangehensweise des Autors ermöglicht einen ganz neuen und erhellenden Blick auf Zusammenhänge und Widersprüche der verschiedenen Literaturtheorien. Die sehr kenntnisreiche Zusammenstellung der vielfältigen Möglichkeiten, an Literatur heranzutreten, ist beeindruckend – nicht umsonst ist der Autor Assistant Professor am German Department der Harvard University. Aber gerade das ist auch das Manko des Buches: dass eine derartige Menge an Informationen auf knapp 200 Seiten zusammengetragen ist, führt zu Verkürzungen. In Kombination mit dem innovativen Ansatz der Darstellung ist das Buch zu voraussetzungsreich, um sich als Einführung für StudienanfängerInnen zu eignen. Wer zumindest mit einigen der genannten Literaturtheorien bereits vertraut ist, ist mit diesem Buch jedoch hervorragend beraten – es ermöglicht eine ganz neue Sicht auf Bekanntes.
Literaturangabe:
SIMONS, OLIVER: Literaturtheorien zur Einführung. Junius Verlag, Hamburg 2009. 192 S., 13,90 €.
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