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Lutz Seilers Erzählband „Die Zeitwaage“

Melancholie der Andeutung

© Die Berliner Literaturkritik, 27.11.09

Von Björn Hayer

Seine Erzählungen sind Traumbilder des Ungefähren, bewegen sich atemlos auf dem Grad zwischen Realität und verwunschener Fantastik. Seine Personen stocken, zögern, bestechen und erweisen sich allesamt als Opfer einer gähnenden Lebensmüdigkeit. Wer den just erwarteten Erzählband „Die Zeitwaage“ Lutz Seilers liest, betritt eine schier eigenartige, verfremdete Welt, die uns allen doch auch so nahe ist. Dass seine Figuren manchmal in zauberwaldähnlichen Gebieten traumwandeln und andererseits die wohl alltäglichsten Lebenskonflikte bestehen, verleiht seinen Geschichten eine faszinierende Spannung.

Dabei eröffnet der Ingeborg-Bachmann-Preisträger nichts der Klarheit. Jeder Denkmoment, jedwede Handlungsbestrebung erlöschen zugleich im Keim des Vagen, könnten überall und nirgendwo passiert sein. Sei es die Reflexion über den Versuch eines neuen Erlebens Franks, der nostalgisch alter Zeiten gedenkt, oder die „beinah vergessene Müdigkeit“ einer studentischen Tresenkraft, mit der er seine sinnentleerten Nachtschichten im Rotlichtlokal Assel zubringt –Lutz Seilers Protagonisten sind so wahrhaftig wie gleichzeitig wortlos. Sie reden kaum, bekunden nur immer und immer wieder, welch starke Müdigkeit sich ihrer angenommen hat.

Was hier nur ganz leise, aber durchaus wirksam anklingt, erweist sich bei der langsamen Offenlegung der poetisch dichten Oberfläche als kritische Hinterfragung moderner Existenzweisen. Allein der rätselhaft anklingende Titel „Die Zeitwaage“ entfaltet sich zur ausdrucksstarken Metapher für eine temporale Balance, die längst verloren gegangen ist, ein Verlieren der Zeit ins Nirgendwo. „Eine Weile suchte ich nach meiner Verzweiflung, fand aber nichts“, betont der Kellner aus der Assel und demonstriert, dass in diesen eigenwilligen Erzählfragmenten „alles auf Anfang und Ende“ steht.

Indem die einsamen Akteure im Raum des permanenten Dazwischenseins treiben, werden sie zu berührenden, hoch psychologisierten Begleitern. Beachtlich ist die Manipulation, diese bis zuletzt subtile Note aller Figuren, die schließlich mehr überlegen als handeln, ja, schon fast selbst zu stillen Observateuren ihrer Umwelt geworden sind. Nie war es so fesselnd zu sehen, wie andere beobachten und eigentlich im Stillstand verharren. Und während der Leser so genüsslich zusieht, bemerkt er im stetigen Verlauf, dass er weniger die Figuren im Spiegel sieht. Denn er selbst erkennt sich in jenen Konfliktlinien und Augenblicken des typisch Ungewöhnlichen.

Es ist dabei einzig der enormen sprachlichen Kraft zu verdanken, warum wir den skurrilen Charakteren, wie dem spärlich beschriebenen K., der des Morgens aus seinem stehenden Auto heraus in detailgenauen Schilderungen den Weg einer Amsel schildert, derart bestechend unsere Aufmerksamkeit widmen. Oder wieso ist das Schicksal eines Schlaflosen, der bei nächtlichem Gang ins Bad einen tödlichen Unfall erleidet, so nachwirkend? Wahrscheinlich weil Seiler einfach zutiefst menschliche Begebenheiten offenbart. Wenn er Namen mit Buchstaben typologisiert, Orte hinter flüchtigen Andeutungen versteckt, öffnet er die Literatur für einen gesellschaftlichen Realitätsraum.

Und dennoch neigt keine seiner brillanten Erzählstücke zur stupiden Verallgemeinerung. Jede ist so individuell wie unverwechselbar, melancholisch wie bis zuletzt fragwürdig. Kein Zweifel: Lutz Seiler gehört zu den großartigen Sprachkomponisten menschlicher Seelenzustände.

Literaturangabe:

SEILER, LUTZ: Die Zeitwaage. Erzählungen. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2009. 285 S., 22,80 €.

Weblink:

Suhrkamp Verlag

 

 


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