STEINBRÜCK, LUTZ: Blickdicht. J. Frank Verlag, Berlin 2011. 76 S., 13,90 €.
Von Tobias Roth
2008 hat Lutz Steinbrück, Jahrgang 1972, seinen Debütband „Fluchtpunkt:Perspektiven“ im Berliner Lunardi Verlag vorgelegt. Unter diesem sehr malerischen Titel zog Steinbrück das globale, sozioökonomische Geschehen auf den Blickpunkt großstädtischer, flüchtiger Anblicke. Diese Dynamik und Zusammenschau ist auch seinem nun erschienen zweiten Band eigen. Aber die optischen Vorzeichen des Titels haben sich umgekehrt: Steinbrücks im Verlagshaus J. Frank (gleichfalls ein Berliner Verlag) erschienenes Buch ist mit dem Wort „Blickdicht“ überschrieben.
Der im Layout schlichte und äußerst elegante Band, versehen mit einigen gegenständlichen Illustrationen von Sina Möhring, trägt deutlich Steinbrücks Handschrift. Ebenso unverkennbar aber ist eine Weiterentwicklung der Bildsprache: sie ist schärfer, zugleich sperriger und surrealer geworden. Weiterhin aber handelt es sich, aller surreal angehauchten Bildsprache zum Trotz, im eigentlichen Sinne um so genannte politische Lyrik: Gedichte, die große soziale und ökonomische Zusammenhänge in den Blick nehmen, Hierarchien verfolgen, und im Spiel der Meinungen und Gesten, die in dieses große Wurzelwerk verflochten sind, eine Position beziehen. Besonders deutlich wird das im ersten der drei Kapitel, „Statements“ überschrieben. Verzerrte, verfremdete Standortsbestimmungen in Rollengedichten arbeiten sich hier an Schlagworten und an Schlagwortketten ab. Schlagwortketten, die sich oft genug ineinander verfilzen und aneinander den verbalen Irrsinn diagnostizieren – mit dem bitteren Nachgeschmack, dass gerade an diesem ökonomischen und politischen Vokabular oft genug die Wirklichkeit kondensiert. Deren Tau und Sprühregen kennt jeder.
Die Spannweite reicht hier vom brachialen „Kolonialwarengedicht“ („Vegetarier sind schlecht / für die Fleisch-Industrie, die / werden niemals Exportweltmeister“), über die Welten des Virtuellen in Computerspielen, Second Lifes oder Tourismen, bis hin zum Einbruch des Kalküls in feinere zwischenmenschliche Beziehungen, wie sie das Schlusskapitel „Beziehungsweisen“ kennzeichnen.
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Das Gedicht „leicht gesagt“, das den Band eröffnet, fasst es in eigener Art und Weise zusammen: „der Klang der irren Worte / die in Fetzen den Bürgersteig hinab- / wehen in Rätseln“. Und neben diesen Rätseln, in denen sich Alltäglichkeit und Wirklichkeit verhaken, denkt man immer wieder an Thomas Bernhards Wort, dass die Zeitungen mehr Wirklichkeit enthalten als die Wirklichkeit. Diese bedrohliche Lückenlosigkeit scheint immer wieder als das Gegenüber der Gedichte auf. „Blickdicht“ ist in diesem Sinne mehr konkret als grundsätzlich, mehr Finger als Wunde, mehr Name statt Geste, und nicht zuletzt: aktuell. Ein lyrisches Ich spricht sich als Erblast gar ein „Sarrazin-Gen“ zu. Es bleibt dringend zu hoffen, dass diese Anspielung schon in naher Zukunft niemand mehr versteht, der nicht im Kommentar nachschlägt. Gegenwärtiges, alltägliches Vokabular wird in die montierte und montierende Syntax moderner Lyrik eingespeist, und Wörter wie Wirtschaft, Generation, Flachbildschirm, Datenpool oder Bratwurst werden zu einer grotesken Ahnengalerie zeitgenössischen Lebensgefühls.
In der Auswahl und Hängung dieser Galerie wird auch die Position deutlich, die diese Gedichte politisch beziehen: Sie wird im Negativen vor allem der Rollengedichte sichtbar, bleibt aber strikt. Was der Band so einfordert, ließe sich vielleicht als Integrität der Person, Trennung ökonomischer und privater Persönlichkeitsanteile umreißen. Die Kritik an Gier und Egoismus lässt im Horizont den Raum für das erhoffte Unverkäufliche offen, ohne dass es benannt werden würde. (Vielleicht noch am ehesten im zartesten Gedicht des Bandes, „Begegnung“, der auch hier sich kühlend zwischen die Sinnlichkeit und den Ausdruck stellenden Reflexion zum Trotz.) Nicht zuletzt stehen Ausbeutung und die sie bemäntelnde Heuchelei nebeneinander am Pranger.
Dieser philanthropischen Position ist wenig entgegenzusetzen. Und gerade deshalb ist der Umweg, auf dem Steinbrück formuliert und gestaltet so wertvoll, ja nötig. Die Gedichte werden nicht zu schlüssig, zu eineindeutig, zu moralisch. Der Körper dieser Lyrik bleibt rätselhaft, offen, nicht auszurechnen ohne irrationale, spontane Regungen. Der inhaltliche Tenor dagegen bleibt klar und sich selbst gleich.
Hervorzuheben ist die Kraft des einzelnen Bildes, das Steinbrück nicht selten findet. Die Dichte des concetto, wenn beispielsweise im Gedicht „Sei versichert“ plötzlich „kein Gletscher lila kalbt“, nachdem die Assoziation durch die Nennung einer „heiligen Kuh“ vorbereitet wurde, ist bemerkenswert und es ist eine Freude sie zu bedenken und zu verfolgen. Vom Rückzug der Eismassen aus den großen Schalen der Gebirge bis zur Milchschokolade nebst Werbekuh und zur Eventisierung des Zerfalls ziehen sich unabsehbare Fäden aus diesem Vers. Aber es ist nicht nur, was da gesehen wird, nicht nur das aparte Sprachmaterial, das hier besticht. Ein Blick wird hier auf die Insektennadel gespießt und ausgestellt, der von mediensatter Zeitgenossenschaft so kaputt ist, dass der Gletscher ihm gegenüber nie mehr Landschaft sein kann. Hier sind Augen blickdicht geworden: was sich ihnen nähert, prallt vom Glas der Bildröhre ab.
Die Gedichte drehen in solchen Momenten durch, rotieren gleichsam auf der Stelle und verleihen recht ernsten Scherzen nicht selten den Grundgestus einer todtraurigen Clownerie, in der man sich findet oder verfängt. Die Zusammenhänge, die hier beschrieben werden, geraten zu einem verbalen Treibsand, dem gegenüber die Zopfzeit der rettenden List längst vorbei ist. Vielleicht kann es doch richtige Lyrik im Falschen geben.
Weblink: J. Frank Verlag