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Märchenhaftes von Ghata

Ghatas Kurzroman „Die Târ meines Vaters“

© Die Berliner Literaturkritik, 29.01.10

Berlin (BLK) – Nach „Die Nacht der Kalligraphen“ erschien 2009 Ghatas zweiter Roman „Die Târ meines Vaters“ im Ammann Verlag. Die Geschichte, die in dem Buch erzählt wird, gleicht einem opulenten orientalischen Märchen. (len)

Klappentext: Nach dem Tod seines Vaters Weißbart erhält Hussein die Târ, die in der Familie seit Generationen an den ältesten Sohn weitergegeben wird. Doch unter Husseins Fingern will die doppelbauchige Laute ihre mystischen Akkorde nicht preisgeben. Seinen Anstrengungen zum Trotz bleibt sie ein bloßes Stück Holz ohne jede künstlerische Strahlkraft. Lastet ein Fluch auf Hussein? Welches Geheimnis birgt die Târ, das zu schwer wiegt, um sie erklingen zu lassen? Hussein und sein Bruder Nur machen sich auf den Weg ins Dorf des legendären Lautenspielers Mohsen, der mit seinem Instrument eine solche Magie entfalten konnte, daß ihr Vater ihn aus Eifersucht erschlug. Parvis, Mohsens Sohn, lauert auf die Söhne des Mörders, und die Brüder ahnen nicht, daß die Geschichte der Târ, die auch ihre Geschichte ist, noch sehr viel weiter zurückreicht.

Yasmine Ghata wurde 1975 in Frankreich geboren und lebt in Paris. Sie ist die Tochter der libanesischen Schriftstellerin Vénus Khoury Ghata. Ghata schrieb bereits einen Roman mit dem Titel Die Nacht der Kalligraphen, der 2007 im Ammann Verlag erschien. Nach dem Studium der Islamischen Kunstgeschichte arbeitet sie heute für eine Pariser Galerie und ist spezialisiert auf die Erstellung von Expertisen für islamische Kunst.

Leseprobe:

©Ammann Verlag©

ICH, NUR, WEISSBARTS SOHN

Weißbart, mein Vater, hatte sich, bis der Tod ihn ereilte, niemals von seinem  Instrument getrennt. Es war eine Târ*, in der die Seele seiner Vorfahren wohnte. Ein Instrument mit langem Hals, das wie ein Kompaß meinem Vater die Richtung ins Jenseits zeigte. Eines Tages schlossen sich Weißbarts Lider, zwei Booten gleich, die von der glänzenden Gischt des offenen Meeres angezogen werden. Er verschied, während er ein paar Noten spielte. Auf den Saiten erklangen die letzten Schläge seines Herzens. Das Plektrum fiel in den Resonanzkörper, es klirrte heimtückisch und entzog sich unserem Zugriff. Mein Bruder Hossein versuchte vergeblich, den alten Mann wiederzubeleben; ich tat dasselbe mit der Târ, ich schüttelte sie, als wäre sein Leben darin eingeschlossen. Die Resignation unserer Mutter ließ uns das Untragbare akzeptieren. Sie bettete die sterbliche Hülle auf den Diwan und küßte die Stirn des Verstorbenen. Der Zeigefinger meines Vaters war noch gebogen. Ich schloß seine Hand, nachdem ich das Plektrum, das wieder zum Vorschein gekommen war, hineingelegt hatte.

Hossein durfte den Leichnam herrichten, meine Mutter hielt mich für zu jung. Er trennte die Kleidungsstücke entlang den Nähten auf, nahm drei Waschungen vor, rieb den Körper mit Henna, Kampher und Myrte ein. Weiß war das Leichentuch des Vaters, eine milchige Wolke in der Dämmerung. Hossein goß das schmutzige Wasser weg, weit von jeder Behausung. Mein Vater wurde in der Nähe des Orumiyeh-Sees** begraben. Weißbart hatte die Schwelle des Todes überschritten und die Tür des Jenseits hinter sich gelassen, die vorläufig geöffnet blieb, bis sie sich in ein paar Tagen von selbst wieder schloß.

Ich war neunzehn, bekam einen Bart und war genauso mager wie mein Erzeuger. Meine Mutter hatte die Târ an den Türrahmen gehängt und staubte sie jede Woche mit dem gleichen Büßerblick ab. Mein Bruder Hossein strich um sie herum, überzeugt, Weißbarts Seele sei darin aufbewahrt. Als unser Vater noch lebte, nahm Hossein das Instrument oft ab, obwohl unsere Mutter es verboten hatte. Er hielt mit einer Hand den Hals und improvisierte mit den Fingern der anderen richtige Stücke in wechselnden Rhythmen, etwa so, wie wenn ein Pferd galoppiert und gleich darauf in die langsame Gangart eines Kamels verfällt. Die Töne glichen dem Gebrumm einer Hummel. Er hielt sie so lang, wie es ihm in den Sinn kam. Er ahnte nicht, daß unsere Mutter bei jeder Schwingung weinte. Sie wußte, daß Hossein seine Finger auf die symbolische Stufenleiter seiner Vorfahren gelegt hatte, um sie nie mehr loszulassen. Sein Leben lang würde er ihre Sprossen erklimmen, kraftvoll ihre Holme umklammern.

Dieses Instrument war nie für mich bestimmt, die Augen meines Vaters richteten sich nur auf Hossein, seine Pupillen fixierten ihn hartnäckig. Ich, Nur, verstand es nicht, seinen Blick auf mich zu ziehen. Meinem Bruder erzählte er von seinen Reisen, seinen Improvisationen und seinen Erfindungen, nachdem er mit seiner Truppe durchs Land gezogen war. Seine taqsîm*** gingen neue Wege. Nur der Gebetsruf der Azam-Moschee unterbrach seinen Monolog, dann räumte er Papiere und Notenblätter weg. Eine Zeitlang nahm ihn der Gebetsteppich auf, ein begrenzter Raum, der seinen ganzen kauernd gekrümmten Körper beherbergte. Manchmal verwechselte ich ihn mit seinem Instrument und hielt dessen Hals aus Nußbaumholz für irgendeinen hervorstehenden Knochen. Die Târ meines Vaters war nur ein Kadaver. Hatte übrigens nicht der alte Lamech so den Oud erfunden, indem er aus einem Stück Holz den verwesten Leichnam seines Sohnes nachbildete? Die Brust wurde zum Resonanzkörper, die Beine zum Hals, die Füße zur Schnecke und die Adern zu Saiten. Diese makabre Geschichte verfolgte mich bis in die Träume. Ein Fäulnisgeruch haftete der Târ an.

Auch um den langen Bart meines Vaters hatten sich zahlreiche Legenden gebildet. Er sagte, diese weiße, in zwei Spitzen auslaufende Matte berge einen seltenen Vogel mit menschlichem Kopf. Unsere Kinderaugen suchten vergeblich einen Flügelschlag, doch der Bart des Alten blieb feierlich ernst. Hossein hatte nie an solche Geschichten geglaubt, fühlte sich aber unwiderstehlich angezogen von dem Instrument. Meine Mutter erzählte gern, daß Hosseins erste Schreie von metallischen Klängen begleitet waren; unser im Nebenzimmer sitzender Vater habe so ihre Schmerzensschreie zu übertönen versucht. Hossein dachte lange Zeit, die Stimme seines Vaters käme aus der Târ. Es stand geschrieben, daß mein Bruder Musiker werden würde wie sein Vater und ich ein zum Schweigen verurteilter Zuhörer. Aber wir wußten noch nicht, daß die Târ uns über die Grenzen unserer Stadt hinausführen sollte, die seit über einem halben Jahrhundert Weißbarts Wirkungsstätte war.

* Instrument indisch-persischen Ursprungs mit metallischem Klang, das zur Familie der Lauten gehört. Sein doppelbauchiger Resonanzkörper ist aus Maulbeerholz, die Decke hat die Form zweier mit der Spitze aneinanderstoßender Herzen. Der lange Hals ist mit 25 Bünden aus Darm umwickelt.

** Salzsee im Nordwesten Irans, benannt nach der Stadt Orumiyeh (Urmia)

*** Soloimprovisationen

©Ammann Verlag©

Literaturangabe:

GHATA, YASMINE: Die Tar meines Vaters. Aus dem Französischen von Andrea Spingler. Ammann Verlag, Zürich 2009. 128 S., 16,95 €.

Weblink:

Ammann Verlag


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