Von Leonhard Reul
Martin Mucha schreibt seinen ersten Kriminalroman. Und nennt ihn „Papierkrieg“ – das Cover zieren schöne alte Bücher, eine Tasse Tee und das Konterfei von Kaiser Franz Josef. Damit gibt der Wahlwiener, der Philosophie und Geschichte studierte, schon einiges zu erkennen: ein österreichischer Krimi erwartet uns da – der noch dazu im Milieu der Gebildeten und Genießenden spielen wird.
Und mit Arno Lindner hat dieser Krimi seinen sympathischen Protagonisten bekommen – ein unterbezahlter Philologe der Universität Wien, der seine Freizeit entweder fürs Jobben im Inzersdorfer Schlachthaus oder für Botengänge oft besuchter Freunde nutzt. Eine solche Besorgung bringt ihn dann den Kontakt mit einem Hehler im wenig malerischen Stadtteil Favoriten ein. Dieser „Strizi“ schenkt ihn die gewünschte DVD-Spindel und Lindner kann so den gesparten 10er beim Backgammonfreund in Gras (seine große Freude neben gutem Tee) investieren. Als er nach dem geglückten Tag spätnachts nach Hause kommt, nimmt jedoch das Unglück seinen Lauf: ein Sportwagen erregt Lindners Aufmerksamkeit – er chauffiert die benebelte Besitzerin nach Hause und entdeckt in deren Handtasche eine vor kurzem benutzte Schusswaffe. Kurzerhand entschließt er sich zu einem Erpressungsversuch – dem reichen Vater im Nobelviertel Döbling muss doch an seinem Ruf (und dem der Tochter) gelegen sein.
Was dann folgt, ist ein durchaus flott geschriebener Krimi, der den Leser in die vielen parallelen Welten Wiens führt – da ist Lindner bei der taktierenden Elite erpressend unterwegs und muss sich selbst gegen eine unfähige und ihre Macht missbrauchende Polizei erwehren. Ferner lernt er eine unbekannte reizende Advokatin kennen, die ihn aus dem „Häfn“ (das Wiener Wort für Gefängnis) befreit – später wird Lindner herausfinden, dass sie mit seinem einstigen Dienstgeber in der Glücksspielbranche unter einer Decke steckt. Dieser warnt ihn im Gegensatz zur schlagkräftigen Russenmafia vor allzu kühnen Schritten – denn schnell weitet sich Lindners Kleinerpressung zu einer großen Sache aus: neben Elektronikhehlern sind nun auch noch Kunstsammler auf der Spur nach einem Papyrus – dem „Papierl“ (vgl. den sinnigen Titel „Papierkrieg“), das die große (finanzielle) Erfüllung bedeutet. Ob Lindner ein Stück vom großen Kuchen abkriegt, möge jeder Leser selbst herausfinden – die 350 Seiten lesen sich schnell.
Wem die Geschichte etwas zu konstruiert und verschlungen vorkommen mag, dem sei seine Aufmerksamkeit weniger für den Plot als für die guten Wien-Beschreibungen Muchas anempfohlen. Denn allein diese detaillierten Skizzen aus dem Wiener Alltag lohnen die Lektüre: Mucha lässt die Launenhaftigkeit der Kellner und Würstlstandverkäufer, der Bim(=Straßenbahn)führer und Polizisten, der Schickeria und des universitären Betriebs lebendig werden. Es ist ein schöner Zug gerade dem Sprachwissenschaftler Lindner solch vergrößerte Achtsamkeit hinsichtlich der Sprachspiele, ihrer Bedeutungen und Nuancierungen in gerade der Stadt, die wie keine andere deutschsprachige zwischen den Zeilen spricht, zuzuschreiben. Zwar verwendet Mucha hierbei manchmal Wien-spezifische Termini, die man außerhalb der Donaumetropole schwerlich kennen wird (oder haben Sie schon mal zur „Eitrigen“ ein „16er Blech“ genossen?), doch diese Sprachechtheit hat auch viel Gutes für sich. Dem interessierten Nicht-Wiener hätte ein Wörterbuch im Anhang vielleicht Freude bereitet, daran hätte der Lektor des Gmeiner Verlags denken können. Ein Stadtplan wäre zudem eine feine Sache – schließlich beschreibt Mucha ganze Viertel und U-Bahn-Linien – da kommt beim Leser schon Neugierde auf: wie/wo muss man sich das eigentlich vorstellen?
Was für die Stadtbeschreibung gilt, nämlich Echtheit (kein Verklären oder Historisieren) trifft auch für die Charakterbilder der Hauptfiguren zu – Mucha fühlt sich ein, in den arabischen Handyverkäufer ebenso wie in den besessenen Sammler – am meisten natürlich in die Figur des Arno Lindner, der durch intelligente Reflexionen zu Musik, Kunst, Sprache und Geschichte Sympathiepunkte bei seinen Gegenübern (also auch dem Leser) sammelt. Er versteht es auf bezeichnende Weise in der Zeit der atypischen Beschäftigungsverhältnisse seine finanzielle Armut zu kompensieren – Luxus und Genuss zieht er aus dem verfeinerten Alltagserleben, seinen Beziehungen und einem ausgeprägten Sinn für Ästhetik. Wo wir beim philosophischen Unterfutter des Buches angelangt wären – Nietzsches „Was mich nicht umbringt, macht mich nur härter“ als auch Anaximandros` „Woraus aber die Dinge ihre Entstehung haben, darein finde auch ihr Untergang statt, gemäß der Schuldigkeit. Denn sie leisten einander Sühne und Buße für ihre Ungerechtigkeit, gemäß der Verordnung der Zeit.“ scheint immerfort implizit als Aussage durch. Und dass uns ein Philosoph zeigt, dass Geisteswissenschaftler aus den höheren Etagen des Elfenbeinturms nicht lebensdebil sind, ist nicht nur dem Philosophen im Rezensenten ein Plaisir.
Das Buch endet mit einem gelungenen Zirkelschluss, der 10er des Anfangs taucht mit Seriennummer zum Ende wieder auf und lässt einen erneuerten Arno Lindner die schöne Haushälterin aus dem Osten zum Eis einladen. Die kalten Herrschaften in der Döblinger Villa müssen derweil erkennen, dass all ihre Raffinesse mit der sie ganz ohne Ganovenehre die Russen und Lindner ausgetrickst zu haben glauben letztlich nicht glücklich macht – diese Erkenntnis hat der Philologe ihnen zum Beschluss noch in beiläufiger Bissigkeit zugefügt und genießt sein offenständiges Leben. Der Leser ist eingeladen es ihm gleichzutun.
Literaturangabe:
MUCHA, MARTIN: Papierkrieg. Gmeiner Verlag, Meßkirch 2010. 372 S., 11,90 €.
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