Von Klaus Hammer
Kein Künstler hat die Ängste seiner Epoche in der menschlichen Gestalt so zwingend dargestellt wie der irisch-englische Maler Francis Bacon. Den klassischen Akt hat er verworfen. Der Mensch wird stattdessen zum zweibeinigen Tier, das abhängig ist von seinen Süchten: nach Sex, Rauschgift, Geborgenheit oder Macht. In den meisten Gemälden stellt der 1992 gestorbene Bacon lebende Personen, allerdings ohne psychologische Dimension, in ihrer materiellen wie sozialen Existenz, oder einfache Gebrauchsgegenstände, Versatzstücke, dar. Es sind allerdings keine fotografischen Abbildungen, sondern Bilder spannungsvoller Vieldeutigkeit, Farb- und Formereignisse, die ein starkes Eigenleben führen. Alle moralischen Bezüge sind aus seiner Bilderwelt entfernt. Stattdessen erreicht sie eine gewisse Einheitlichkeit durch die verwischte Dokumentarkraft bestimmter Schlüsselbilder, die er dem Magazin des 20. Jahrhunderts entnommen und konträr zusammengestellt hat.
Zum 100. Geburtstag des zu den bedeutendsten gegenständlichen Malern des 20. Jahrhunderts zählenden Francis Bacon hat der Berliner Autor, Journalist und Übersetzer Dino Heicker eine beeindruckende Anthologie – „Ein Malerleben in Texten und Interviews“ lautet der Untertitel – herausgebracht, in der das Erlebnis der Bilder nun auch in Selbstauskünften des Künstlers sowie in Stellungnahmen seiner Freunde und Galeristen, von Ausstellungsmachern und Sammlern, Kunstkritikern und Kunsthistorikern, Schriftstellern und Philosophen aus unterschiedlichen Blickwinkeln kommentiert wird. Der Herausgeber hat die Erstdrucke der Texte in chronologischer Anordnung zusammengestellt und sie in die Abschnitte „Die Anfänge“, Die Retrospektive in der Tate Gallery 1962“, „Die Ausstellung im Grand Palais in Paris 1971“, „Der berühmte Maler“ und „Nachruhm“ gegliedert.
Wenn die Texte mitunter auch erheblich gekürzt wurden, liest sich das Lesebuch wie ein spannender Lebensroman. Die unterschiedlichen Standpunkte und Fragestellungen einer fünf Jahrzehnte währenden Auseinandersetzung mit dem Werk Bacons regen zur Meinungsbildung an. Wohltuend auch, dass hier nicht die Sex- und Skandalgeschichten des Malers ausgebreitet werden, der sich mit 16 Jahren seiner Homosexualität bewusst wurde, die unterschiedlichsten Partnerbeziehungen einging und vom Alkohol und Glücksspiel nicht lassen konnte, sondern auf das malerische Werk dieses belesenen Intellektuellen orientiert wird, der eine ungewöhnliche Arbeits- und Selbstdisziplin aufbrachte.
Bereits der englische Kunstkritiker Robert Melville hat 1949 festgestellt, so kann man eingangs des Buches lesen, dass er beim Anblick der Bilder Bacons daran gehindert worden sei, „die Kunst mit der üblichen Routine zu bewerten und zu genießen. Plötzlich hat die moderne Malerei ein menschliches Antlitz erhalten“. Der Kunstkritiker und Freund David Sylvester erkannte dann 1952, dass Bacons Bilder die Einstellung einer ganzen Nachkriegsgeneration wiedergeben, „die lernen musste, die Verzweiflung zu überwinden“. Und die US-Kunsthistorikerin Virginia Harriman sieht in der Aktstudie von 1955 ein klassisches Beispiel für den durch die Erfahrung gegenwärtiger Sinnlosigkeit zur Machtlosigkeit und Agonie verurteilten modernen Menschen.
Eines der bedeutendsten Schlüsselbilder Bacons stammt aus Eisensteins „Panzerkreuzer Potemkin“ und zeigt in Nahaufnahme das von Säbelhieben gezeichnete, angstverzerrte Gesicht einer laut schreienden Kinderfrau mit herabgerutschter Brille. Bacon kombinierte dieses Bild mit Velazquez’ Porträt von Papst Innozenz X., diesem wunderbaren Abbild lauernder Macht, und heraus kam das bekannte Bild vom „schreienden Papst“ („Studie nach dem Velazquez-Portrait von Papst Innozenz X.“, 1953). Er hat dieses Papst-Motiv in den nächsten 14 Jahren immer aufs Neue wiederholt. Ein letztes Mal, 1971, fügte er ein Fenster in das Gemälde ein, durch das sich der Papst einer Erscheinung der Gegenwart konfrontiert sieht. Oder können wir dieses Fenster auch als Spiegel lesen, der das Bild des Papstes auf sich selbst zurückwirft?
Im Interview mit der französischen Schriftstellerin Marguerite Duras berichtet Bacon, dass er eine Arbeit mit Klecksen aller Art beginne und auf den „Unfall“ warte, den Klecks, der das Bild auslöst. Die Kleckse „sind die ‚Ereignisse’, die mir passieren, wobei sie durch mich passieren …“ Bacon verschmähte Material aus „naiven“ Quellen, übernahm aber mit Vorliebe Bilder aus didaktischen Vorlagen und zerstörte oder verwischte dabei ihre Absichten und Anliegen. Sein Studio war angefüllt mit Fotos, Ausschnitten aus Magazinen und illustrierten Büchern, an die Wand gepinnt, auf dem Boden liegend oder mit Farbresten, leeren Tuben, eingetrockneten Pinseln, schmutzigen Lappen und anderem Abfall zu einer Art „Komposthaufen“ verbunden, von dem er erwartete, dass dieser ständig neue Bilder ausbrütete. Alle Lebensspuren hat er sorgfältig konserviert. Es ging ihm um Distanz und Konfrontation, die es ihm ermöglichten, seine unappetitlichen oder grausamen Themen zu bewältigen, es ging ihm um die klinische Betrachtung des menschlichen Körpers als Objekt ohne jede Intimsphäre.
Bacon glaubte etwas Gemeinsames in den verschiedenen Nutzungsarten des Körpers zu sehen: Man konnte den Körper untersuchen, zum Sex gebrauchen oder politischen Zwängen unterwerfen. In allen Fällen handelt es sich um Formen der Selbstaufgabe, der Überantwortung, bei denen der Körper nur noch als Objekt fungiert. Daher auch Bacons Vorliebe für Umgebungen, die an Willenlosigkeit erinnern: schmutzige Wände, die vielleicht zu einer Gefängniszelle gehören, Bettgestelle und Stühle, die sich in Gitter verwandelt haben, Haufen medizinisch aussehender Röhrchen. Die geschlossenen Räume und die nicht zu identifizierenden Möbel aus hässlichem Material und in hässlichen Farben, alles von einer einzigen nackten Glühbirne beleuchtet, imaginieren eine Sphäre der Gewalttätigkeit. Hier wird Gewalt – auch Sex - zum tierischen Ringen, und alle Gefühle werden zu Wutausbrüchen mit darauf folgendem Katzenjammer.
Wiederholt hat der Maler erklärt, dass nichts von dem, was er vor 1944 geschaffen habe, „von irgendwelcher Bedeutung“ sei, so überliefert es der Kunsthistoriker John Rothenstein, der während der Bacon-Retrospektive 1962 Direktor der Tate Gallery in London war. „Mein Anfang“, so sagte ihm der Maler, „waren die ‚Three Figures at the Base of a Crucifixion’ für die Tate.“ Bei diesen „Drei Studien zu Figuren am Fuße einer Kreuzigung“ (1944) ging der Künstler von einem Foto aus, auf dem Hitler bei einem Nürnberger Parteitag aus seinem Auto steigt. Aber Bacon setzte an die Stelle Hitlers eine zumindest ebenso Ekel erregende Kreatur, die ihren langen, reptilienhaften Körper aus dem Autofenster streckt und zähnefletschend auf die Erde herunterhängen lässt.
Die Form des Triptychons gab ihm die Möglichkeit, drei Schreckensbilder in einer Arbeit zu vereinen. Die Figur auf der linken Seite scheint sich aus ihrem Zwinger befreien zu wollen, kann sich aber nicht bewegen. Dieselbe Lähmung hat das Monstrum auf der rechten Seite befallen, das seinen ausgestreckten Hals kaum noch ausstrecken und nur ein hilfloses Stöhnen hervorbringen kann. Das zentrale Bild vermittelt noch unendlich viel weniger Trost als ein Leidender an einem Kreuz. Anstelle eines Christus, der trotz allen Leids Verheißung bedeutet, fletscht uns hier eine Bestie brutal an. Dieses Wesen könnte sich gebärden wie ein wütender Hund, aber es könnte auch im Todeskampf stöhnen – denn seine Augen sind ausgestochen. Diese doppelte Auslegung ist von Bacon beabsichtigt, denn er weiß, dass ein Schrei ebenso Aggression wie Schmerz oder auch höhnisches Gelächter bedeuten kann. Bacon: „Es ist allein der Schrei, der zählt.“ Die drei griechischen Furien – so hat er sie einmal genannt –schreien ihr Elend und ihre Wut hinaus, sie sind Zeugnis von Bacons eigenem Leiden in einer Zeit, die ihm verbot, eine Kreuzigung im Sinne der herkömmlichen Tradition zu malen.
Vergleicht man die Kreuzigungs-Studien von1944 mit den drei Tafeln des Triptychons „Kreuzigung“ von 1965, so bilden Letztere einen einheitlichen, zusammenhängenden Raum, der den Charakter eines Museums hat. Zwei Besucher schauen gelangweilt auf die Kreuzigungsskulptur im Mittelbild. Flankiert wird die Kreuzigung von zwei formlosen blutigen Schergen mit Hakenkreuzarmbinde auf den Seitentafeln – irgendwann wird auch hier die Schlachthausbrutalität durchbrechen und den neutralen Ort der Beschaulichkeit verwandeln.
Der Philosoph und Anthropologe Arnold Gehlen schrieb 1962 über die erste deutsche Bacon-Retrospektive, die in Mannheim von der Tate Gallery übernommen wurde, und bezeichnete den Gesamteindruck der Papst-Bilder als „grandios-katastophal, vor allem, weil zum concetto die ungeheure Einsamkeit der erhöhten Figur gehört. Es gibt gar keinen Adressaten der Vehemenz des Ausbruches, er erfolgt in den schweigenden, riesigen Raum hinein …“. Der Kunsthistoriker und Museumsdirektor Werner Spies gab 1966 den Eindruck neuer Arbeiten Bacons in der Galerie Maeght in Paris so wieder: „Seine bis zur Weißglut erhitzten, gewundenen und geschundenen Figuren präsentieren sich als Gegen-Bilder zu einer anderen, am Menschen ausgerichteten Kunst, zu der Giacomettis.“ Bacon entgehe einer Gefahr, die seiner Malerei bisher innewohnte: „Der expressive Zug wird vor der plastischen Konzeption der Räume ausbalanciert. Das geschieht auf Kosten des Engagements.“
Der italienische Schriftsteller Dino Buzzati schrieb über die Ausstellung im Grand Palais 1971: „Die Bilder, so infernalisch sie sind, sprühten vor Jugendlichkeit, während ihr Schöpfer, der erschreckende Poet, die Last so vielen Leides zu tragen hatte.“ Der französische Philosoph Gilles Deleuze äußert sich über die Funktion der Farbe in Bacons Bildern, der französische Ethnologe und Freund Bacons, Michel Leiris, zu Figur und Raum, während der Literaturwissenschaftler Fritz J. Raddatz 1985 mit dem Maler über dessen Triptychen spricht und dabei erfährt, dass Bacon sie unabhängig voneinander male, sie müssten getrennt gerahmt und könnten auch getrennt gehängt werden. Der Kunsthistoriker Otto Karl Werckmeister widmet sich der autobiographischen Selbstdarstellung des homosexuellen Künstlers, der niederländische Literaturwissenschaftler Ernst von Alphen der Körpersprache im Werk Bacons, während der Schriftsteller, Literatur- und Medienwissenschaftler Volker Demuth Bacons „transvestierten Orten“, dem Verhältnis von Körper und Landschaft nachspürt. Die österreichische Kuratorin Barbara Steffen beschäftigt sich damit, wie Bacon den Augenblick des Schreis im Moment des Schreckens einzufangen und ihn in dieser Momentaufnahme visuell festzuhalten suchte.
Bacon hat die Empfindung des Todes, des Todes des Freundes George Dyer, der auch der Tod irgendeines anonymen Zeitgenossen sein könnte, ins kaum noch Erträgliche gesteigert. In der Mitteltafel des Triptychons vom August 1972 erscheinen die ineinander verknäuelten Körper eines Paares nicht nur als Liebes- und Gewaltakt, sondern als ein Kampf auf Leben und Tod, den die beiden Zeugen dieser Szene nicht wahrzunehmen scheinen: Die sitzende Figur rechts hat der anderen den Rücken zugewandt, die linke Figur hält die Augen geschlossen. Beide Figuren sind nur als Torsi präsent, die schwarzen Schatten der offenen Tür haben sie eingeholt, das auslaufende Leben klebt auf dem Boden des Bildes.
Immer wieder hat Bacon das Motiv der Verzerrung – im eigentlichen Sinne sind seine Bilder Zerrspiegelbilder – zur Aufschlüsselung hingenommener Tatbestände eingesetzt. Seine Ringer, die er ihren Kampf auf blutbeflecktem Laken austragen lässt, enthüllen in ihren Verrenkungen und im Sich-selbst-Zerfleischen die masochistische Untiefe der idolisierten Massenvorstellungen der Sportplätze. Manchmal handelt es sich „nur“ um einen Hund, der spazieren geht, begleitet vom Schatten seines Herrn („Mann mit Hund“, 1953), eine Frau, die am Rande des Bürgersteigs steht, mit einem um die Ecke kurvenden Auto im Hintergrund („Portrait von Isabel Rawsthorne in einer Straße von Soho“, 1967), einen Mann, der in einem schlecht beleuchteten Treppenhaus steht (auf der Mitteltafel eines Triptychons von 1971, es ist der tragisch ums Leben gekommene Freund George Dyer) – aber immer ist es eine verblüffende Vergegenwärtigung, die die ganze „Gewalttätigkeit des Wirklichen“ offenbart und die er durch die „Gewalttätigkeit der Farbmaterie“ zum Ausdruck bringen will.
Den Spuren im Atelier des Künstlers geht die irische Kunsthistorikerin Margarita Cappock nach, die für die Sichtung und Sicherung des Materials, das Bacon als Inspirationsquelle für sein Werk diente, in der Dublin City Gallery zuständig war. Aus welchen Quellen schöpfte Bacon, welche Motive hat er sich anverwandelt oder, wie er es sah, sie ihres narrativen Gehalts entkleidet? Obwohl es eine große Anzahl von Blättern gibt, die wohl von Bacons Hand stammen, hat der Künstler selbst wiederholt bestritten, gezeichnet zu haben – er wollte wohl als genialer Schöpfer seiner Bilder gelten. Der britische Dichter und Kunstkritiker Edward Lucie-Smith geht diesem heiklen Thema nach und kommt zu dem Ergebnis, dass Bacon „tatsächlich regelmäßig als Teil seines Arbeitsprozesses Zeichnungen gemacht hat“. Aber ob diese Zeichnungen irgendwann als gleichberechtigter Teil des Schaffens Bacons anerkannt werden, so schreibt der Herausgeber, wird die Zukunft erweisen. Dieses Nachwort von Dino Heicker ist besonders lesenswert, begründet es doch nicht nur die Auswahl der Texte für diese Sammlung, sondern gibt darüber hinaus auch eine stimmige Rezeptionsgeschichte des Bacon’schen Werkes.
Diese so gelungene Geburtstagsgabe macht deutlich: Bacon hat mit den Mitteln der bildenden Kunst und auf der Höhe unserer Zeit Grenzsituationen sichtbar gemacht, deren Radikalität uns durch die große Fülle lang vertrauter Formulierungen verloren zu gehen drohte. Vielleicht könnte dieser Maler aus Obsession wirklich als ein Goya der modernen Geschichte bezeichnet werden, der letzte Maler tragischer Gestalten, der von wahren Ereignissen im menschlichen Leben zu berichten weiß, die die Kamera eben nicht erfassen kann.
Literaturangabe:
HEICKER, DINO (Hrsg.): Francis Bacon. Ein Malerleben in Texten und Interviews. Parthas Verlag, Berlin 2009. 336 S., 24 €.
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